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Zensur, für die wir mitverantwortlich sind

Foto & Montage: Doc Baumann

Erst löscht Facebook ein weltbekanntes, aufrüttelndes Foto aus dem Vietnam-Krieg als „Kinderpornographie“, dann wird das Bild nach zahllosen Protesten verschämt wieder freigegeben. Bei rassistischen Sprüchen dagegen ist man sehr viel großzügiger oder lässt sich lange Zeit.

Der Vorgang selber ist so dämlich, dass man ihn kaum kommentieren muss: Die norwegische Zeitung „Aftenposten“ stellte ein Foto von flüchtenden, von Napalm verbrannten Kindern auf ihre Facebook-Seite, das seit mehr als einem halben Jahrhundert als Ikone der Reportagefotografie gilt. Eines der Kinder, ein kleines Mädchen, ist nackt. Facebook löscht den Beitrag aus diesem Grund als Kinderpornographie. Man könne ja nicht bei jedem nackten Kind neu entscheiden, ob das nun Pornographie sei oder was anderes.

Wahrscheinlich hat man sich bei Facebook gedacht, diese Nacktheit könne nur einen denkbaren Grund haben: Die vor Schmerz schreiende Kleine hat sich die brennenden Klamotten vom Körper gerissen, um den Betrachter sexuell zu erregen, und der geile Fotograf hat genau deswegen auf den Auslöser gedrückt.


Ich möchte weder, dass ein verklemmter Ami noch dass ein neuronales Netzwerk  ästhetische und moralische Entscheidungen für mich trifft.


Wenn einem verklemmten Ami dazu nichts anderes einfällt, ist das seine Sache. Wenn denn überhaupt einer dahintersteckt. Immer mehr Entscheidungen werden ja von Algorithmen getroffen. Was dabei herauskommen kann, mussten wir kürzlich miterleben, als das neuronale Netz Beauty.AI (Artificial Intelligence) bei einem Schönheitswettbewerb die Entscheidung traf, Models mit dunkler Hautfarbe seien nicht attraktiv. Oder als ein Microsoft-Kommunikationsprogramm nach kurzem Aufenthalt im Web damit begann, Nazisprüche abzusondern.

Egal. Ich möchte weder, dass ein verklemmter Ami noch dass ein neuronales Netzwerk  ästhetische und moralische Entscheidungen für mich trifft. Will man seine Inhalte als App anbieten, muss man peinlich genau darauf achten, dass bloß keine Brustwarze, kein Penis und kein Schamhaar irgendwo auftauchen (wobei wahrscheinlich kein Schamhaar an passender Stelle noch schlimmer wäre als ein solches.) Mit dem WWW zurück in die Ära kirchlicher Bevormundung!

Wer weiß, wahrscheinlich darf man auf Facebook als Kunsthistoriker auch nicht über antike Venus-Statuen, pompejanische Fresken mit Bordellszenen oder Kreuzigungsgemälde informieren, auf denen ein nackter Mann malträtiert wird. Aber von Kreuzigungen wird man bei Facebook wahrscheinlich schon gehört haben, schließlich hat diese ganze Prüderie letztlich ja religiöse Wurzeln.


Erstaunlich, dass Gott den Menschen nicht gleich mit Feinripp-Unterwäsche erschaffen hat.


Nun gut, seien wir fair: Wollen wir, dass sich soziale Medien als bloße Informations- und Kommunikationsbehälter verstehen, deren Betreibern die transportierten Inhalte schnurzegal sind? Oder wollen wir, dass sie ein Mindestmaß an moralischer Verantwortung gewährleisten? Aber wie soll das funktionieren, wenn man sich gleichermaßen an amerikanische Bauarbeiter, afrikanische Bauern, europäische Ingenieure, asiatische Lebensmittelhändler, fundamentalistische Religionseiferer und liberale Intellektuelle richtet? Irgendwer ist ständig beleidigt und hält seine ethischen Maximen durch Bilder und Texte bedroht, die andere Nutzer für selbstverständlich halten. Aber das ist nicht mein Problem, damit sollen sich die befassen, die das anbieten und damit viel Geld verdienen.

Dennoch ein konstruktiver Vorschlag: Meinetwegen kann ja jeder Nutzer in seinem Profil ankreuzen, dass er mit bestimmten Inhalten nicht behelligt werden möchte, dann muss er sich später über Nacktheit, blasphemische Äußerungen oder Verschwörungstheorien nicht aufregen. (Wird aber nicht viel nützen. Selbst auf docma.info erregen sich einzelne Besucher über politische Aussagen von mir, weil die nichts mit Bildbearbeitung zu tun hätten – als sei ihnen nicht bereits beim Lesen der Überschrift aufgefallen, worum es in dem Beitrag geht.)

Keine Frage, die sozialen Medien haben es in dieser Hinsicht nicht leicht. Es ist praktisch unmöglich, allen weltweiten Anforderungen gleichermaßen nachzukommen. Die Alternative, alles auf den kleinsten gemeinsamen Nenner herunterzubrechen, ist sicherlich ebenso wenig wünschenswert. Seltsam ist nur, dass die Reaktionsgeschwindigkeit der Betreiber bei Nacktheit und Sex offenbar um Größenordnungen schneller ist als bei rassistischen Sprüchen und Naziparolen.

Letztlich sind wir an dieser Bevormundung allerdings selbst schuld, indem wir diese Angebote nutzen. Würden alle Menschen, die sich über die Facebook-Entscheidung zum Vietnam-Foto ärgern, daraus entsprechende Konsequenzen ziehen, würden sicherlich schnell Maßstäbe und Algorithmen geändert. Schließlich geht es um viel Geld, das mit unseren Daten verdient wird. Immerhin haben in diesem Fall die öffentlichen Proteste geholfen. Es müsste nur viel mehr davon geben.

 

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Doc Baumann

Doc Baumann befasst sich vor allem mit Montagen (und ihrer Kritik) sowie mit der Entlarvung von Bildfälschungen, außerdem mit digitalen grafischen und malerischen Arbeitstechniken. Der in den Medien immer wieder als „Photoshop-Papst“ Titulierte widmet sich seit 1984 der digitalen Bildbearbeitung und schreibt seit 1988 darüber.

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5 Kommentare

  1. »Keine Frage, die sozialen Medien haben es in dieser Hinsicht nicht leicht.«
    Och, das ist ja furchtbar. Aber was ist denn ein soziales Medium? Ich kenne keins persönlich; auch hat noch nie eines an meiner Tür geklopft – und somit kann somit weder richtig Mitgefühl empfinden als auch mittrauern.

    »Aber das ist nicht mein Problem, damit sollen sich die befassen, die das anbieten und damit viel Geld verdienen.«
    Hm, nicht eher die, die damit KEIN Geld verdienen? Da das die überwiegende Mehrheit zu sein scheint, würde sich mit der einzig vernünftigen Antwort – den Schwachsinn zu beenden – das Problem doch in Wohlgefallen auflösen. Vermutlich ist aber die Hinrichtung auf das eigentliche Problem viel zu einfach, um zu beachtet zu werden.

    In meiner Heimatstadt gab es eine Ampel, die zeigte 24 Stunden am Tag Rot. Ein Umschalten per Zeitschalter war ebenso ausgeschlossen, wie eine wie auch immer geartete manuelle Schaltung. Sieben Tage die Woche, seit mehr als 20 Jahren. Dieser Unsinn wurde von den verantwortlichen Politikern beständig mit noch größerem Schwachsinn verteidigt, obwohl die nur für Linksabbieger gestattete Passage immerhin im Schnitt alle sechs Stunden von zwei bis drei motorisierte Fahrzeuge passiert werden wollte. Egal, Wartungsgebühren und Stromverbrauch waren ein hinreichender Grund, diese seit Jahren angeprangerte Lachnummer zu erhalten.
    Nu is Schluß mid lusdich.
    Die Ampel wurde abgebaut. Da hat wohl ein Realo den Sinn nicht verstanden – mit einem kleinem, an sich leicht zu lösenden Problem von komplexeren Schwierigkeiten abzulenken. Schade , obwohl ich noch ein wenig Hoffnung habe. Denn nach dem Abbau vorige Woche steht die Baustellenabsperrung fünf Tage später immer noch …

    Wie schön, dass man hier alles so nett abladen kann. Wie schön, dass hier PEGIDA nicht im Mittelpunkt steht.
    😉

  2. Das ist für mich nicht ernst genug um mich darüber zu ärgern, sondern trägt zu meiner Erheiterung bei.
    Auf der einen Seite werden wir vor sozialen Netzwerken gewarnt, auf der anderen Seite sind doch all die , die warnen, selber dort. Das rassistische Beiträge eine größere Daseinsberechtigung haben als echte Berichterstattung, zeigt doch WER da an der Schraube dreht. Maschinen.
    Das sollte uns zu denken geben und zum Handeln anregen. Aber das ist so ähnlich wie mit MC Donalds, keiner geht da hin aber die werden reicher und reicher.

  3. Unabhänging von dem eigentlichen Thema bin ich über den Stil des Artikels erschrocken. Ich habe DOCMA als seriöse Zeitschrift kennen und schätzen gelernt. Wenn ich aber jetzt lesen muss „Wenn einem verklemmten Ami dazu nichts anderes einfällt….“ dann bin ich schlicht und einfach entsetzt. Jeder Mensch hat seinen kulturellen Hintergrund und ich bin auch kein Freund der amerikanischen Kultur, aber ich muss sie akzeptieren. Genau so erwarte ich, dass kein Amerikaner mich einen veklemmten spießigen Deutschen nennt.
    Ich hoffe, dass diese Ausdrucksweise lediglich einen Ausrutscher darstellt.

  4. so mancher artikel ist ohne die kommentare nur die hälfte wert.

    richtig finde ich den hinweis, dass man erst vor der eigenen haustüre kehren solle, bevor man andere belehrt -> wer selber im fratzenbuch aktiv ist, sollte nicht andere anregen, dort zu boykottieren.

    richtig finde ich den hinweis, dass das wirkliche leben doch (noch) wichtiger erachtet werden sollte, als die virtuelle welt.

    falsch finde ich den hinweis, dass der „verklemmte ami“ doch unseriös sei, weil eben dieser eine (freie) meinungsäußerung darstellt (der ich mich anschließe) und noch dazu lediglich eine zuordnung eine spezifischen teilmenge der bewohner des amerikanischen kontinents.

    die (system)kritik teile ich, dass wir von logarithmen informiert und manipuliert werden und das eine ungute entwicklung ist.

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