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Albert Watson: Ein visuelles Schwergewicht

Wer glaubt, Fotografie sei bloß das Einfrieren von Licht, der hat noch nie in die Augen von Alfred Hitchcock, Steve Jobs oder Kate Moss geblickt – zumindest nicht durch die Linse von Albert Watson. Sein Werk ist der beste Beweis dafür, dass ein Porträt weniger eine Abbildung als vielmehr eine Behauptung ist. „KAOS“, der neue Bildband aus dem Hause Taschen, ist daher kein Buch, sondern ein Ereignis. Und wie jedes gute Ereignis hinterlässt es Spuren – im Kopf, im Herzen und auch im Portemonnaie. Es ist ein opulenter, fordernder und bisweilen unbequemer Monolith aus Papier, der uns zwingt, über die Macht der Inszenierung und die Flüchtigkeit von Ikonen nachzudenken.

Vom schottischen Regen ins kalifornische Licht

Um die Wucht von Watsons Bildern zu verstehen, muss man den Mann dahinter kennen. Geboren 1942 in Edinburgh, auf einem Auge von Geburt an blind, wuchs er in einer Welt auf, die von Grau- und Schwarztönen dominiert war. Vielleicht ist es dieser Mangel, diese Reduktion, die seinen Blick für Kontraste, Formen und die Essenz eines Motivs so unerbittlich geschärft hat. Nach dem Studium am Royal College of Art in London zog es ihn 1970 nach Los Angeles. Ein Umzug, der sich wie der Wechsel von Schwarzweiß zu Farbe liest. In Amerika fand er die perfekte Bühne für seine Vision: eine Kultur, die besessen ist von Ruhm, Schönheit und der ständigen Neuerfindung des Selbst. Seine Karriere liest sich wie das Inhaltsverzeichnis der Popkultur des späten 20. Jahrhunderts. Er hat nicht nur Gesichter fotografiert, manche hat er zu Denkmälern geformt.

Ein Monolith aus Papier und Pelz

Was also birgt „KAOS“? Zunächst einmal Masse. Über 400 Seiten im Großformat, gebunden in einen mit Kunstfell bezogenen Schuber – eine ironische Verbeugung vor der Modewelt, die er so meisterhaft seziert hat. Das Buch ist kein flüchtiger Begleiter, sondern ein Statement, das nach einem eigenen Platz im Raum verlangt. Im Inneren entfaltet sich ein sorgfältig kuratiertes Universum aus fünf Jahrzehnten fotografischen Schaffens. Ikonische Porträts, die längst Teil unseres kollektiven Bildgedächtnisses sind, stehen neben stillen, fast meditativen Landschaftsaufnahmen und grafisch strengen Stillleben.

Dazwischen finden sich bisher unveröffentlichte Polaroids, die wie rohe Skizzen seiner späteren Meisterwerke wirken. Sie gewähren einen seltenen Einblick in den Arbeitsprozess, in das Suchen und Verwerfen, das jedem perfekten Bild vorausgeht. Diese Mischung aus vollendeten Werken und flüchtigen Notizen macht den eigentlichen Reiz des Bandes aus. Sie zeigt Watson nicht nur als Meister der Komposition, sondern auch als unermüdlichen Forscher.

Die Anatomie des Ruhms

Natürlich könnte man über Watsons legendäre Lichtführung, seine Vorliebe für das Großformat oder seine Experimente in der Dunkelkammer dozieren. Doch das würde zu kurz greifen. Die technische Perfektion ist bei ihm nie Selbstzweck, sondern immer Werkzeug. Seine Bilder sind mehr als nur ästhetisch ansprechende Oberflächen; sie sind Analysen von Macht, Verletzlichkeit und der Maskerade des öffentlichen Lebens. Wenn er Steve Jobs fotografiert, dann sehen wir nicht nur den Apple-Gründer, sondern die Inkarnation des visionären, fast messianischen Tech-Gurus, dessen Intensität den Betrachter auch heute noch packt. Seine Porträts von David Bowie oder Andy Warhol sind keine Schnappschüsse, sondern präzise konstruierte Inszenierungen, die das Wesen der Porträtierten auf einen einzigen, unvergesslichen Moment verdichten. Hier liegt der unschätzbare Wert für jeden Bildschaffenden: zu beobachten, wie man über das reine Abbilden hinaus eine tiefere, symbolische Ebene erreicht. Allerdings wirken auch viele der Bilder heute wie ein Blick in eine Zeitkapsel der 80er und frühen 90er Jahre. Die Ästhetik, die Posen, die Mode – all das trägt eine unverkennbare Patina. Doch gerade diese Distanz macht die Aufnahmen heute umso interessanter. Sie werden zu historischen Dokumenten, die nicht nur eine Person, sondern den Zeitgeist einer ganzen Epoche konservieren. Sie erlauben eine Analyse darüber, wie sich Schönheitsideale und Codes der Selbstdarstellung gewandelt haben.

Fazit

Dass „KAOS“ bei Taschen erscheint, ist nur folgerichtig. Der Verlag hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Giganten der Fotografie monumentale Altäre aus Papier zu bauen. Watson fügt sich nahtlos in die Reihe von Newton, Lindbergh und Salgado ein, behauptet aber eine ganz eigene, oft sperrigere Position.

Braucht man dieses Buch? Wer Fotografie als reines Handwerk betrachtet, vielleicht nicht. Wer aber verstehen will, wie Bilder zu Ikonen werden, wie man mit Licht nicht nur ausleuchtet, sondern auch erzählt, und wie man einer Person vor der Kamera nicht nur begegnet, sondern sie ergründet, für den ist „KAOS“ eine unverzichtbare Lektion. Es ist kein gefälliges Coffee Table Book, sondern ein anspruchsvolles, visuell überwältigendes und fast sechs Kilo schweres Traktat, das noch lange nachwirkt, nachdem man es zugeklappt hat.

Fakten

Albert Watson. Kaos
Hardcover im Schuber, 27.8 x 37.4 cm, 5.51 kg, 408 Seiten

€ 125

Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

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