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Was KI über Super-Recogniser verrät und warum Porträtfotografen umdenken sollten

Jeder, der sich ernsthaft mit der Porträtfotografie befasst, kennt die Herausforderung: Es geht nicht nur darum, eine Person abzubilden, sondern ihr Wesen, ihren Charakter, das Unverwechselbare in einem einzigen Bild zu bannen. Manche Menschen besitzen eine außergewöhnliche Begabung, Gesichter zu erkennen und sich an sie zu erinnern, selbst wenn sie diese nur flüchtig gesehen haben. Man nennt sie „Super-Recogniser“. Lange Zeit wurde diese Fähigkeit als eine Art angeborenes, beinahe magisches Talent betrachtet, das tief im Gehirn verankert ist. Doch was wäre, wenn diese Meisterschaft weniger mit einer geheimnisvollen Gabe und mehr mit einer erlernbaren Technik des Sehens zu tun hätte? Eine aktuelle Studie, die künstliche Intelligenz zurate zieht, liefert nun faszinierende Antworten, die für jeden Bildgestalter relevant sein können. Sie dekodiert den Blick der Meister und gibt uns Werkzeuge an die Hand, unsere eigene Wahrnehmung und damit unsere Fotografie zu schärfen.

Die Anatomie des Blicks

Forscher haben sich in einer neuen Untersuchung nicht mehr nur darauf konzentriert, was im Gehirn eines Super-Recognisers passiert, sondern wie diese Personen Informationen überhaupt erst aufnehmen. Der Schlüssel liegt im Akt des Sehens selbst. Die Wissenschaftler nutzten Eye-Tracking-Technologie, um die Blickmuster von Testpersonen präzise zu verfolgen, während diese Porträts betrachteten. Die so gewonnenen Daten – quasi eine Aufzeichnung der Netzhautinformationen – wurden anschließend in tiefe neuronale Netze (Deep Neural Networks) eingespeist. Diese KI-Systeme, die darauf trainiert sind, Gesichter zu erkennen, dienten als objektiver Maßstab, um die Effizienz der unterschiedlichen Sehstrategien zu bewerten.

Das Ergebnis ist ebenso verblüffend wie aufschlussreich: Die überlegene Fähigkeit zur Gesichtserkennung beginnt bereits bei der Art und Weise, wie das Auge das Gesicht abtastet. Es ist also nicht allein eine Frage der späteren Verarbeitung im Gehirn, sondern fundamental davon abhängig, welche visuellen Daten überhaupt erst gesammelt werden. Die Studie zeigt, dass die Art, wie wir ein Gesicht erkunden, maßgeblich dafür ist, was wir über dieses Gesicht lernen und abspeichern. Super-Recogniser sind in dieser Hinsicht weitaus effizienter und genauer als der Durchschnittsmensch, was sich in Erkennungsraten von über 90 Prozent niederschlägt, wo andere nur auf rund 73 Prozent kommen.

Ganzheitliche Wahrnehmung statt Merkmalsfokus

Was genau machen Super-Recogniser anders? Die landläufige Meinung, auch unter vielen Fotografen, ist, dass die Augen, die Nase und der Mund die wichtigsten Ankerpunkte eines Gesichts sind. Man konzentriert sich auf das „Dreieck“. Die Studie widerlegt diese vereinfachte Annahme. Super-Recogniser fixieren sich nicht nur auf diese prominenten Merkmale. Stattdessen lassen sie ihren Blick strategisch und gleichmäßiger über die gesamte Fläche des Gesichts schweifen. Sie scheinen, so eine der Beobachtungen, sich im Geiste ein weitaus umfassenderes und detaillierteres Bild des Gesichts zu malen. Ihr Blick ist dabei nicht zufällig, sondern gezielt auf die Merkmale ausgerichtet, die für die Wiedererkennung am wichtigsten sind. Das können auch subtile Details sein, die oft übersehen werden: die genaue Form des Gesichts, die Haarlinie, die Textur der Haut oder feine Asymmetrien, wie etwa ein leicht tiefer sitzendes Auge. Diese ganzheitliche Erfassungsmethode liefert dem Gehirn ein reichhaltigeres und robusteres Datenpaket, das eine spätere Identifikation auch unter veränderten Bedingungen – anderes Licht, anderer Gesichtsausdruck, Alterung – ermöglicht.

Konsequenzen für Porträt und Retusche

Für Fotografen und Bildbearbeiter sind diese Erkenntnisse pures Gold. Sie liefern eine wissenschaftliche Grundlage für das, was große Porträtkünstler instinktiv schon immer wussten: Ein Gesicht ist weit mehr als die Summe seiner Teile.

Für den Fotografen am Set bedeutet dies, die Komposition und Lichtführung neu zu überdenken. Anstatt das gesamte Licht auf die Augen zu konzentrieren und den Rest des Gesichts in dramatischen Schatten versinken zu lassen, könnte ein Ansatz, der die gesamte „Landschaft“ des Gesichts ausleuchtet und seine Struktur und Textur betont, zu einem weitaus stärkeren und vor allem wiedererkennbareren Porträt führen. Es geht darum, dem Betrachter all jene visuellen Informationen anzubieten, die auch ein Super-Recogniser zur Identifikation nutzen würde. Das schließt die Form des Kiefers, die Beschaffenheit der Wangenknochen und selbst die Ohren mit ein. Die Anleitung des Modells sollte darauf abzielen, diese Gesamtstruktur zu präsentieren, anstatt sie hinter einer schmeichelhaften, aber letztlich informationsarmen Pose zu verbergen.

Für den Retuscheur in der Postproduktion ergibt sich daraus eine fast noch radikalere Konsequenz. Der Drang, jede Pore zu glätten, jede kleine Asymmetrie zu korrigieren und ein makelloses, aber steriles Idealbild zu schaffen, könnte der Wiedererkennbarkeit des Porträts direkt schaden. Die Studie legt nahe, dass gerade die feinen „Unvollkommenheiten“ und die spezifische Textur der Haut wichtige Datenpunkte für das menschliche Erkennungssystem sind. Eine Retusche, die diese charakteristischen Merkmale eliminiert, beraubt das Bild seiner Identität. Die Kunst besteht also nicht darin, zu eliminieren, sondern zu betonen – die einzigartigen Merkmale subtil herauszuarbeiten, anstatt sie auszulöschen. Eine gute Retusche bewahrt die Daten, anstatt sie zu zerstören.

Fazit

Letztlich bestätigt die Wissenschaft, was in der Kunst längst als Wahrheit gilt: Das Wesen eines Menschen zeigt sich im Detail und in der Gesamtheit seiner Erscheinung. Die Fähigkeit, dies zu sehen und festzuhalten, trennt den Handwerker vom Künstler. Diese Studie gibt uns nun den wissenschaftlichen Beweis und eine klare Handlungsanweisung, wie wir unseren Blick schulen können, um bessere, ehrlichere und unvergessliche Porträts zu schaffen.

Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

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