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KI und die blinden Flecken: Warum Medienprofis auch 2026 mehr als nur Algorithmen verstehen müssen

„Erst gestalten wir unsere Werkzeuge, dann gestalten sie uns“. Dieses Zitat des Medientheoretikers John Culkin von 1967 hat im Jahr 2025 eine fast unheimliche Dringlichkeit erlangt. Wir stehen inmitten einer technologischen Umwälzung, die von vielen als das wichtigste Ereignis der Menschheitsgeschichte betrachtet wird. Die Werkzeuge, die uns heute formen, sind Systeme der Künstlichen Intelligenz. Modelle wie GPT-4.5 haben im März 2025 den klassischen Turing-Test nicht nur bestanden, sondern wurden in Befragungen häufiger für einen Menschen gehalten als die menschlichen Gesprächspartner selbst. Diese Maschinen ahmen menschliche Kommunikation mit verblüffender Perfektion nach. Doch während wir ihre Fähigkeiten bestaunen, übersehen wir möglicherweise eine fundamentale Gefahr: Die Werkzeuge, die unsere sprachliche und visuelle Kultur neu zusammensetzen, operieren mit einem fragmentierten und verzerrten Gedächtnis der Menschheit. Für Medienprofis, Journalisten und andere Kreative ist das Verständnis dieser Lücken keine Nebensache, sondern eine Kernkompetenz.

Die blinde Allwissenheit der Algorithmen

Die Künstliche Intelligenz, im Kern ein computerbasiertes System, das seine Umgebung analysiert und daraus Informationen abstrahiert, lernt aus Daten. Ihre Fähigkeit, durch die Analyse von Datenmustern die eigene Leistung zu verbessern, ohne explizit programmiert zu sein, wird als maschinelles Lernen bezeichnet. Die Modelle, die heute Bilderfluten generieren, schöpfen aus dem größten verfügbaren Datensatz: dem Internet. Doch dieser digitale Ozean ist eine trügerische Repräsentation der Wirklichkeit. Er ist dominiert von Inhalten aus dem westlichen, englischsprachigen Kulturkreis, während große Teile des globalen Wissens, der visuellen Traditionen und der sozialen Realitäten hier unterrepräsentiert sind – oft weil sie schlicht nicht digitalisiert wurden.

Was nicht in den Trainingsdaten vorkommt, existiert für die KI nicht. Sie entwickelt ein Weltbild, das auf einem Ausschnitt menschlichen Wissens basiert. Das Ergebnis ist eine KI, die zwar logische Schlüsse effizienter ziehen kann als ein Mensch, deren Wissensbasis aber voller blinder Flecken ist. Sie reproduziert mit der Präzision eines Supercomputers die Vorurteile und die Monokultur ihrer Datengrundlage. Für Kreativprofis bedeutet das: Sich auf die scheinbare Vielfalt einer KI zu verlassen, heißt, sich der Einfalt ihrer Datenquellen auszuliefern.

Vom Stereotyp zur visuellen Monokultur

Die Konsequenzen dieser datenbasierten Schieflage sind in den generierten Bildern unmittelbar sichtbar. Eine Eingabeaufforderung für „eine erfolgreiche Person“ liefert zuverlässig das Bild eines hellhäutigen Menschen im Anzug. Die Darstellung von „Familie“ folgt einem westlichen Ideal, das Milliarden Menschen eher aus den Medien als aus ihrem Alltag kennen. Jedes generierte Bild, das auf einem Klischee beruht, wird selbst wieder zum potenziellen Trainingsmaterial und verstärkt die Verzerrung in einem sich selbst bestätigenden Kreislauf.

Die Gefahr liegt nicht nur in der Reproduktion von Vorurteilen. Denn wenn ich ein Deutschland eine KI-Familie generiere und diese sich an den dominierenden europäischen Hautfarbenstandards orientiert oder einer erfolgreichen Unternehmerin einen Hosenanzug anzieht, wird es mir nicht falsch vorkommen. In anderen Teilen der Welt mag das aber nicht unbedingt so sein. Trotzdem produziert die KI auch für sie unser hiesiges Realitätsbild.

Gravierender – auch für uns – ist die schleichende Verarmung unserer kollektiven Bildsprache. Lokale Ästhetiken oder einfach nur die unperfekte, unpolierte Realität des Alltags – all das wird von den glatten, optimierten und stereotypen Bildern der KI an den Rand gedrängt. Der Ergebnis: eine Art Instagram-Disneyland. Realistisch, aber weit vor der Realität der meisten entfernt.

Das liegt nicht daran, dass die KI es so will. Vielmehr orientieren sich ihre Entwickler und diejenigen, die sich um die Feinjustierung der Outputs kümmern, am Markt – also an dem, was wir alle gerne sehen wollen und wofür wir Geld beztahlen.

Im Ergebnis riskieren wir eine globale visuelle Monokultur, kuratiert von Algorithmen, die auf einem Ausschnitt menschlicher Erfahrung auf Gefälligkeit trainiert wurden.

Die neue Verantwortung

Wenn Unternehmer immer komplexere Entscheidungen treffen müssen, erscheint KI als willkommener Helfer. Doch wer heute in einer Redaktion oder Agentur den Einsatz von KI verantwortet, übernimmt mehr als nur eine technische Implementierung. Er wird zum Kurator des digitalen Gedächtnisses. Die Rolle des Künstlers wandelt sich vom Schöpfer zum Dirigenten von KI-Systemen. Es reicht nicht mehr, eine Eingabeaufforderung zu formulieren. Die eigentliche professionelle Leistung liegt darin, die Ergebnisse kritisch zu hinterfragen, die blinden Flecken der Maschine zu erkennen und sie – sofern nötig – bewusst mit dem zu konfrontieren, was sie nicht kennt.

Die Zukunft ist gestaltbar und das gilt insbesondere für den Umgang mit diesen mächtigen Werkzeugen. Es geht darum, menschliche Werte in die Zielsysteme der KI einzubauen. Für Entscheider bedeutet dies, eine Kultur der kritischen Distanz zu etablieren. Es bedeutet, die menschliche Expertise – das Erfahrungswissen und das soziale Verständnis, das einer Maschine fehlt – als unverzichtbares Korrektiv zu begreifen. Die Intelligenz der KI mag unsere eigene erweitern, aber sie ersetzt nicht die Weisheit und die Verantwortung des Menschen, der sie führt. Unsere Intelligenz ist, was uns menschlich macht; die KI ist eine Erweiterung dieser Qualität. Es liegt an uns, diese Erweiterung so zu nutzen, dass sie unseren Horizont weitet, anstatt ihn zu verengen.

Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

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