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Falschinformation: Warum Fakten allein nicht überzeugen

Wir halten uns für aufgeklärt. Wir glauben, unsere Meinungen auf einem soliden Fundament aus Fakten und logischen Schlüssen zu errichten. Doch wer von uns kann von sich behaupten, im täglichen Sturm der Informationen wirklich objektiv zu sein? Die unbequeme Wahrheit ist: Unsere Anfälligkeit für Falschinformationen hat weniger mit mangelnder Intelligenz oder Bildung zu tun als mit einem tief in uns verankerten Bedürfnis – dem Schutz unserer Identität und der gefühlten Stärke unserer sozialen Gruppe.

Natürlich KI-generiert, aber so etwas geht aktuell fast nur noch mit selbstgerosteten Modellen
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Das Phänomen betrifft uns alle, unabhängig von politischer Couleur. Die entscheidende Frage ist nicht, wer anfällig ist, sondern warum – und wie wir lernen können, die Fesseln der eigenen Voreingenommenheit zu lockern.

Der Trugschluss der reinen Vernunft

Die Vorstellung, der Mensch sei ein primär rationales Wesen, das Informationen neutral bewertet, ist eine der hartnäckigsten Illusionen der Aufklärung. Neuere Forschungen zeichnen ein differenzierteres Bild. Sie legen nahe, dass Menschen bei der Bewertung von Informationen oft unbewusst ein Ziel verfolgen, das über die reine Wahrheitsfindung hinausgeht: die Stärkung der eigenen symbolischen Position und der Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Leicht widerlegbare Behauptungen werden nicht trotz, sondern gerade wegen ihrer Offensichtlichkeit akzeptiert. Das Bekenntnis zu einer solchen „alternativen Faktenlage“ oder schlicht Falschinformationen dient als kostspieliges Signal der Loyalität zur eigenen Gruppe. Es demonstriert, dass die Verbundenheit zum Kollektiv wichtiger ist als die Konformität mit allgemein anerkannten Tatsachen.

Dieser Mechanismus funktioniert über politische Lager hinweg. Ob es um die Interpretation von Wahlergebnissen, die Ursachen des Klimawandels oder die Bewertung globaler Krisen geht – die Muster sind verblüffend ähnlich. Informationen, die die eigene Weltsicht stützen, werden bereitwillig und oft unkritisch aufgenommen. Fakten hingegen, die das eigene Narrativ infrage stellen, prallen an einer kognitiven Schutzmauer ab oder werden als feindliche Propaganda umgedeutet. Wir sind keine neutralen Richter über die Faktenlage; wir sind Anwälte unserer bereits existierenden Überzeugungen.

Natürlich KI-generiert, aber so etwas geht aktuell fast nur noch mit chinesischen Modellen
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Das digitale Kuratieren der Wirklichkeit

Die digitale Sphäre hat diesen Prozess nicht erschaffen, aber sie hat ihn zu einer neuen Perfektion geführt. Soziale Medien und algorithmisch gesteuerte Nachrichtenströme wirken wie ein gewaltiger Verstärker für unsere kognitiven Neigungen. Sie schaffen maßgeschneiderte Realitätstunnel, in denen unsere Überzeugungen permanent bestätigt und Gegenargumente systematisch ausgeblendet werden. Wir sind zu Kuratoren unserer eigenen Wirklichkeit geworden.

Die Parallele zur Entwicklung der Fotografie ist unübersehbar. Mit dem Übergang vom analogen zum digitalen Bild verlor das fotografische Abbild seinen Status als unumstößlicher Zeuge der Wirklichkeit. An die Stelle des Festhaltens eines objektiven Moments trat die Möglichkeit der Konstruktion einer gewünschten Realität. Ähnlich verhält es sich mit unserem Informationskonsum: Wir konsumieren nicht mehr nur, was ist, sondern wir stellen uns eine Welt zusammen, wie sie sein soll. Die algorithmische Filterung liefert uns dazu das perfekte Werkzeug – ein Photoshop für unsere Weltsicht, das uns erlaubt, störende Fakten wegzuretuschieren und die Farben der eigenen Überzeugung zu sättigen.

Jenseits der Rechthaberei: Die Kultivierung epistemischer Demut

Wie entkommen wir diesem selbstverstärkenden Kreislauf? Die Lösung liegt nicht in einem weiteren Appell, doch bitte „faktenbasierter“ zu sein. Solche Forderungen verkennen die psychologische Tiefe des Problems. Der Ausweg beginnt mit einer Haltung, die man als „epistemische Demut“ bezeichnen könnte: die grundsätzliche Anerkennung der Fehlbarkeit des eigenen Denkens und der Grenzen des eigenen Wissens. Es ist die Einsicht, dass unsere Wahrnehmung stets gefärbt ist und dass die eigene Überzeugung, so felsenfest sie auch erscheinen mag, möglicherweise auf brüchigem Grund steht.

Diese Haltung ist kein Freibrief für intellektuelle Beliebigkeit. Im Gegenteil, sie ist die Voraussetzung für echtes kritisches Denken. Sie befähigt uns, die entscheidenden Fragen an uns selbst zu richten: Welche Emotion löst diese Information in mir aus? Dient sie dazu, meine Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu bestätigen? Wie würde ich dieselbe Information bewerten, wenn sie von einer Quelle käme, die ich ablehne? Welche Art von Beweis wäre ich bereit zu akzeptieren, um meine Meinung zu ändern?

Eine solche Selbstbefragung ist anstrengend. Sie erfordert die Bereitschaft, kognitive Dissonanz auszuhalten – jenes unangenehme Gefühl, das entsteht, wenn neue Informationen unseren tiefsten Überzeugungen widersprechen. Doch genau in diesem Unbehagen liegt die Chance für intellektuelles Wachstum. Es geht darum, den Modus der permanenten Verteidigung zu verlassen und in einen Modus der neugierigen Erkundung zu wechseln.

Natürlich KI-generiert, aber so etwas geht aktuell fast nur noch mit chinesischen Modellen
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Die gesellschaftliche Dimension des Denkens

Letztlich ist die Fähigkeit zum faktenbasierten Diskurs keine rein individuelle Tugend, sondern das Fundament einer funktionierenden, offenen Gesellschaft. Wenn jede Gruppe in ihrer eigenen, unumstößlichen Wahrheit verharrt, erodiert die Basis für jeden Kompromiss und jede gemeinsame Problemlösung. Die Förderung von Medien- und Informationskompetenz muss daher über das reine Vermitteln von Faktencheck-Techniken hinausgehen. Sie muss im Kern eine Bildung zur intellektuellen Selbstreflexion sein.

Es geht nicht darum, Meinungsverschiedenheiten abzuschaffen. Eine pluralistische Gesellschaft lebt von der Auseinandersetzung unterschiedlicher Werte und Prioritäten. Die Herausforderung besteht darin, diese Auseinandersetzung auf einem gemeinsam geteilten Fundament von Fakten zu führen. Der Weg dorthin ist steinig und erfordert von allen Seiten die Bereitschaft, die eigene Rechthaberei zugunsten eines gemeinsamen Strebens nach Annäherung an die Wahrheit zurückzustellen. Wenn wir von gefühlten Wahrheiten und alternativen Fakten überflutet werden, ist diese anspruchsvolle, aber unerlässliche Haltung vielleicht der radikalste Akt der Vernunft.

Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

5 Kommentare

    1. Ein News-Portal war das hier schon immer, aber dieser Beitrag zählt nicht zu den News, sondern zu den Blog-Artikeln, die je nach Autor unterschiedliche Themen und insgesamt ein breites Spektrum abdecken. Sie greifen nicht unbedingt tagesaktuelle Ereignisse auf, sondern widmen sich eher aktuellen Trends, die sie kritisch kommentieren und einordnen.

  1. Es ist, in diesen Zeiten, phantastisch dass es DOCMA gibt. Der Philosoph Christoph Künne hilft mir durch den Nebel der KI und gibt mir Hoffnung und Mut! 25 „genaile“ Hacks sind in wenigen Tagen überholt, aber Künnes Worte wird man in 100 Jahren als Anfang sehen, wie die Menschen trotz der KI, noch Freude an ihrer Kreativität haben und sie weiterentwickeln. Die KI hat mir schon völlig die Freude am Zeichnen genommen, dank DOCMA ist das beim Fotografieren nicht der Fall. PS.: Trotzdem lese ich auch gerne Tipps zu Photoshop und KI! 😉

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