Das Napalm-Mädchen: Ein Bild, sein Fotograf und die unendliche Farce der Deutungshoheit

Es gibt Bilder, die brennen sich ins kollektive Gedächtnis ein. Nick Uts Fotografie des von Napalm verbrannten Mädchens Phan Thi Kim Phuc aus dem Jahr 1972 ist ein solches Bild. Ein Mahnmal des Vietnamkrieges, Pulitzer-Preis-gekrönt, eine Ikone des Leids. Doch über fünf Jahrzehnte später ist die Geschichte dieses Fotos weniger ein abgeschlossenes Kapitel der Fotogeschichte als vielmehr ein fortlaufendes Schauspiel der Absurditäten. Die jüngste Wendung, eine Untersuchung von World Press Photo bezüglich der Urheberschaft, fügt dieser Saga nur ein weiteres, fast schon satirisch anmutendes Kapitel hinzu. Man fragt sich unweigerlich: Geht es hier noch um das dokumentierte Grauen oder längst um eine Nabelschau der Medienwelt? Der Fall bietet jedenfalls reichlich Stoff für Diskussionen über Fotojournalismus Ethik, Urheberrecht Fotografie und die langfristige Wirkung ikonischer Kriegsfotografie.
Als das Entsetzen laufen lernte – und Preise gewann
Die unmittelbare Wirkung des Fotos war unbestreitbar. Das Bild ging um die Welt und konfrontierte die Öffentlichkeit mit einer Brutalität, die in den offiziellen Verlautbarungen des Krieges oft fehlte. Es wurde zum Symbol, zur Anklage. Nick Ut, der Fotograf der Associated Press, wurde zum Helden, der nicht nur abdrückte, sondern das Mädchen Kim Phuc anschließend auch ins Krankenhaus brachte. Eine Tat, die die Grenzen zwischen beobachtendem Journalisten und eingreifendem Menschen verschwimmen ließ – aber auch eine ethische Gratwanderung, die bis heute diskutiert wird.
Schon hier beginnt die subtile Ironie: Es bedurfte offenbar erst der visuellen Zurschaustellung eines nackten, schreienden, verbrannten Kindes, um eine breitere Masse emotional für die Gräuel des Krieges zu „erreichen“ Als hätten Zahlen, Berichte und Analysen zuvor nicht ausgereicht. Das Entsetzen musste erst eine ästhetische Form finden, preiswürdig werden – der Pulitzer-Preis folgte 1973 –, damit es seine volle Wucht entfalten konnte. Die Absurdität liegt in dieser Notwendigkeit, das Unfassbare in ein einzelnes, konsumierbares Bild zu bannen, das dann stellvertretend für den gesamten Schrecken steht.
Digitale Moralapostel und algorithmische Kurzsichtigkeit
Jahrzehnte später, in einer inzwischen digitalisierten Medienlandschaft, erlebte das Foto eine neue Form der Auseinandersetzung. Im Jahr 2016 zensierte Facebook das Napalm-Mädchen aufgrund seiner Nacktheitspolicy. Ein historisches Dokument, das das Leid von Kindern im Krieg zeigt, wurde von Algorithmen und menschlichen Moderatoren, die möglicherweise den Kontext nicht erfassten oder ignorieren mussten, als asl Kinderpornografie eingestuft. Der Aufschrei war groß, und Facebook lenkte schließlich ein. Doch der Vorfall entlarvte die ganze Hilflosigkeit und manchmal auch Ignoranz im Umgang mit historisch bedeutsamem Material im digitalen Zeitalter. Wenn eine KI oder eine übereifrige Content-Policy nicht zwischen Kinderpornografie und Kriegsdokumentation unterscheiden kann, dann hat die Absurdität eine neue Stufe erklommen. Es ist die Ironie einer Zeit, in der die Hüter der digitalen Öffentlichkeit mitunter mehr Angst vor einem nackten (Kinder-)Körper haben als vor der Verharmlosung von Kriegsgewalt.
Der neueste Akt: Wem gehört das Trauma auf Film?
Und nun, 2025, der vorläufig letzte Akt in diesem Drama: Die World Press Photo Foundation hat nach einer mehrmonatigen Untersuchung die Nennung von Nick Ut als Fotograf des Bildes vorläufig ausgesetzt. Auslöser waren Zweifel, die durch einen Dokumentarfilm und weitere Nachforschungen genährt wurden, ob tatsächlich Ut oder ein anderer Fotograf das ikonische Bild anfertigte. Die Untersuchung analysiert unter anderem Kamera-Typen und Bildausschnitte. Associated Press hält weiterhin an Uts Urheberschaft fest, räumt aber ein, dass er möglicherweise eine andere Kamera als bisher angenommen verwendet haben könnte.
Und damit kommen wir zum nachsten Aufreger: Leica hat jahrelang dieses ikonische Bild des Napalm-Mädchens als ein Produkt ihrer M-Kamera betrachtet. Und nun stellt sich auch hier heraus: Es war nur eine Pentax – und niemand hat den Unterschied bisher gesehen.
Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: 53 Jahre nachdem ein Bild die Welt erschütterte und half, die öffentliche Meinung über einen Krieg zu verändern, wird mit akribischer Detailversessenheit darüber debattiert, wer genau auf den Auslöser gedrückt hat und welcher Auslöser es war. Die Intensität und der Zeitpunkt dieser Debatte, lange nachdem das Bild seine historische Wirkung entfaltet hat, wirken wie eine späte Pointe. Es ist, als würde man bei der Mona Lisa plötzlich darüber streiten, ob Leonardo da Vinci vielleicht einen besonders begabten Praktikanten mit an die Leinwand gelassen hätte, und dies würde nun das gesamte Verständnis des Kunstwerks revolutionieren. Die Fokussierung auf den Urheber lenkt fast schon genüsslich von der eigentlichen Tragödie ab, die das Bild dokumentiert. Das Trauma des Mädchens Kim Phuc wird zur Fußnote in einer Debatte über fotografische Technik und berufliche Eitelkeiten.
Die ganze Angelegenheit ist ein Fest für Medienkritiker und ein Trauerspiel für jene, die hofften, die Botschaft des Bildes sei eindeutig und unmissverständlich. Stattdessen sehen wir eine endlose Kette von Interpretationen, Instrumentalisierungen und nun auch noch Infragestellungen der grundlegendsten Fakten. Es ist die ultimative Ironie, dass ein Bild, das die Schrecken des Krieges so unvermittelt zeigte, nun selbst zum Schauplatz eines medialen Kleinkriegs um Deutungshoheit und Autorenschaft wird. Die Absurdität dieser Entwicklung wirft ein grelles Licht auf die Mechanismen, mit denen wir Geschichte, Kunst und Trauma verarbeiten – oder eben auch nicht. Man darf gespannt sein, welcher Akt in diesem Theaterstück als nächstes aufgeführt wird.
Kürzlich gab es ja eine Veranstaltung der DGPh zu diesem Thema, auf der die verfügbare Evidenz noch einmal präsentiert wurde, und danach halte ich die Position von Nik Ut und AP weiterhin für plausibel; einen Grund, Nik Uts Urheberschaft ernsthaft in Zweifel zu ziehen, sehe ich nicht.
Die aktuelle Debatte wurde durch den Dokumentarfilm „The Stringer“ ausgelöst, der der Öffentlichkeit leider weitgehend vorenthalten wird; mehreren Leute, die die Argumentation der Filmemacher überprüfen wollten, gelang es nicht, sich den Film anzuschauen. Der Ursprung aller Zweifel an der Identität des Fotografen liegt allerdings bei Carl Robinson – just dem Mann im AP-Büro in Saigon, der die Veröffentlichung des Bildes seinerzeit verhindern wollte, weil das „Napalm-Mädchen“ nackt sei und man das Foto deshalb nicht in den USA verwenden könne. Der Bildredakteur Horst Faas, der gerade Mittagspause gemacht hatte, sah dann das Bild, entschied anders – und der Rest ist Geschichte. Während Horst Faas immer Nick Ut als den Fotografen identifizierte, hatte Carl Robinson Zweifel daran gesät.
Der Stringer, der angeblich das Nick Ut zugeschriebene Foto aufgenommen hat, hätte, wenn seine Geschichte stimmt, ein einziges Foto jemals an AP verkauft, nämlich eben dieses. Als Beleg hätte er einen Abzug davon erhalten, aber der sei irgendwann verloren gegangen. Da er von der Karriere „seines“ Bildes nichts erfahren hätte, hätte er sein Urheberrecht auch nie durchzusetzen versucht. Ich weiß nicht recht …
Übrigens: Nick Ut hatte die Kinder nicht nur ins nächstgelegene Krankenhaus gefahren; dort wollte man sie zunächst nicht aufnehmen und so musste er erst mit schlechter Presse drohen. Erpressung, wenn man so will, aber zu einem guten Zweck – es hat den Kindern mutmaßlich das Leben gerettet.
Inzwischen haben sich mehrere Fotografen, auch ehemalige Jury-Mitglieder und -Vorsitzende des World Press Photo Award, gemeldet, die die Entscheidung von World Press Photo scharf kritisieren und sie auffordern, die Urheberschaft von Nick Ut wieder anzuerkennen. Andernfalls bestünden sie darauf, künftig nicht mehr im Zusammenhang mit dem World Press Photo Award genannt zu werden. Auch die Macher des Dokumentarfilms „The Stringer“ werden für ihre intransparente Politik kritisiert, ihren Film niemanden zu zeigen (er lief nur ein einziges Mal beim Sundance Festival) – aus spekulativen Gründen, wie man vermutet, um den Preis für Lizenzen in die Höhe zu treiben. Auch Dave Burnett gehört zu den Fotografen, die sich mit Nick Ut solidarisiert haben, und er war schließlich dabei, als das Foto entstand. (Siehe https://petapixel.com/2025/05/23/acclaimed-photojournalists-rush-to-nick-uts-defense/)
Also, das mit Leonardo und seinem Praktikanten ist soooo abwegig überhaupt nicht! Ein anderes der berühmtesten Gemälde ist „Der Mann mit dem Goldhelm“ von Rembrandt. Das galt auch jahrhundertelang als von DEM Rembrandt ausschließlich gemalt (und eben nicht von Kalle Rembrandt aus Bottrop). Dann stellte sich aber heraus, als eine (offenbar) sehr kompetente „Jury“ sich das Gemälde Pinselstrich für Pinselstrich, mm für mm, vornahm, daß man „ganz eindeutig mehrere Handschriften“ erkennen könne, d.h. DER Rembrandt war NICHT der einzigste, der Farbspuren auf dem Gemälde hinterlassen hat, sondern daß es – nach Meinung der Experten – sich um eine Art „Übung für Fortgeschrittene“ gehandelt haben müßte, also für die Schüler vom Rembrandt. Er hätte ihnen gezeigt, wie man die Licht-Gold-Glitzereffekte hinbekommt, die Schatten, wie den Übergang von hell zu dunkel zu hell gestalten usw.
Das Museum als Eigentümer war natürlich hoch erbost über die Prüfungsergebnisse, ließ das Gemälde trotzig noch etwas hängen und verbannte es dann schlußendlich in den Keller. Auch die Versicherung wurde gekündigt,,, Obwohl es noch genauso phänomenal gemalt war, galt es nun nicht mehr als echter Rembrandt und war monetär kaum noch etwas wert.
IM PRINZIP könnte das auch mit Leonardos Gemälden passieren. Z.B., wenn Leonardo auch zu unterrichtende Schüler gehabt hätte, denen zu zeigen wäre, dieses spezielle Lächeln hinbekommt oder wie man Augen malt, die einem immerzu anzublicken scheinen. Im Prinzip! Ich glaube aber eher nicht, daß der Louvre jemand SO NAH an das Gemälde ranläßt….!!!