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Bildband „European Realities“ als Inspirationsquelle für digitale Bildwelten

Ein opulenter Kunstband wirft ein frisches Licht auf die Malerei der europäischen Realismusbewegungen der 1920er und 1930er Jahre – eine Fundgrube für alle, die sich professionell mit Bildkomposition, Farbgebung und visueller Narration auseinandersetzen.
Mit „European Realities: Realism Movements of the 1920s and 1930s“ legen die Herausgeberinnen Anja Richter und Florence Thurmes ab Juli 2025 ein gewichtiges Werk vor, das nicht nur Kunsthistoriker, sondern insbesondere auch professionelle Bildgestalter und Digitalkünstler ansprechen dürfte. Auf 384 Seiten entfaltet sich ein vielschichtiges Panorama der europäischen Malerei jener stilistisch prägenden Zwischenkriegszeit. Eine Epoche, deren visuelle Strategien und künstlerische Auseinandersetzungen mit der Wirklichkeit erstaunliche Anknüpfungspunkte für heutige digitale Bildschaffende bieten.

Eine visuelle Reise durch die Malerei zweier Dekaden

Der sorgfältig kuratierte Band versammelt rund 300 Werke aus 21 europäischen Ländern und präsentiert damit eine beeindruckende Vielfalt realistischer Strömungen, die sich abseits bekannter Pfade wie der Neuen Sachlichkeit in Deutschland oder des Magischen Realismus entwickelten. Für Kreative im visuellen Bereich, die stets auf der Suche nach Inspiration für Bildaufbau, Lichtführung und Farbpalette sind, eröffnet dieses Buch eine reiche Quelle. Die Herausgeberinnen, ausgewiesene Kennerinnen der europäischen Kunst dieser Periode, haben es verstanden, ein komplexes Feld zugänglich zu machen, ohne es zu simplifizieren.

Die Druckqualität, ein Markenzeichen des Hirmer Verlags, genügt höchsten Ansprüchen. Die Reproduktionen der Gemälde lassen feinste Pinselstriche, subtile Farbnuancen und die materielle Textur der Originale erahnen – Aspekte, die für ein geschultes Auge von großer Bedeutung sind. Die solide Hardcover-Ausführung macht den Band zu einem langlebigen Referenzwerk für Atelier und Bibliothek.

Die Grammatik des Sehens: Von alten Meistern zu neuen Medien

Für die Leserschaft von DOCMA, die sich intensiv mit den Möglichkeiten digitaler Bildgestaltung und künstlicher Intelligenz im visuellen Bereich beschäftigt, mag ein Band über Malerei der Zwischenkriegszeit zunächst fernliegend erscheinen. Doch der Schein trügt. Die Art und Weise, wie Künstler damals die Realität analysierten, interpretierten und in bildnerische Form übersetzten, birgt wertvolle Lektionen für heutige Bildkonzepte. Die Auseinandersetzung mit Perspektive, Figurendarstellung, narrativen Strukturen und der emotionalen Wirkung von Farbe und Komposition ist zeitlos.

Die damaligen Debatten um den Wahrheitsanspruch der Malerei, um die Grenze zwischen Abbild und Interpretation, finden ein Echo in den aktuellen Diskussionen um KI-generierte Bilder und die Authentizität digitaler Darstellungen. „European Realities“ liefert hierfür einen wichtigen historischen Resonanzboden und zeigt, dass die Frage nach dem „Realen“ im Bild keineswegs neu ist. Vielmehr kann die intensive Beschäftigung mit diesen historischen Werken den Blick für die subtilen Mechanismen der Bildwirkung schärfen, die auch in der digitalen Domäne Gültigkeit besitzen.

Ein kritischer Blick auf die Textgestaltung

Die begleitenden Texte der Herausgeberinnen Anja Richter und Florence Thurmes zeugen von profunder Sachkenntnis und sorgfältiger Recherche. Sie beleuchten die soziokulturellen Kontexte, in denen die Kunstwerke entstanden, und zeichnen die Entwicklungslinien der verschiedenen realistischen Tendenzen nach. Bedauerlicherweise erschwert eine mitunter sehr ambitionierte Anwendung gendergerechter Sprache den Lesefluss und lenkt von den ansonsten luziden Ausführungen ab. Ein Umstand, der in Fachpublikationen dieser Güte vermieden werden sollte, um die Informationsaufnahme nicht unnötig zu verkomplizieren und den Fokus auf die exzellent aufbereiteten Inhalte zu wahren. Die Stringenz der Argumentation und die Dichte der Information hätten von einer sprachlich zurückhaltenderen Form profitiert.

Im Spannungsfeld von Kunst und Gesellschaft

Die im Band vorgestellten realistischen Strömungen waren tief in den gesellschaftspolitischen Umbrüchen ihrer Zeit verwurzelt. Die Künstler reagierten auf Industrialisierung, soziale Verwerfungen und politische Instabilitäten. Ihre Werke sind oft kritische Kommentare, mal subtil, mal plakativ. Diese Fähigkeit der Kunst, Zeitgeschehen zu reflektieren und zu deuten, ist auch für heutige Bildschaffende, die sich mitunter ähnlichen Herausforderungen einer sich rasant wandelnden Welt gegenübersehen, von Relevanz. Der Band zeigt eindrücklich, wie Malerei zum Medium der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit wurde und wie vielfältig die Antworten auf die Frage ausfielen, was „Realismus“ im Angesicht einer komplexen Moderne bedeuten kann.

Richter und Thurmes gelingt es, die nationalen Eigenheiten und die internationalen Verflechtungen der Kunstszene jener Zeit sichtbar zu machen. Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen deutschen, französischen, italienischen oder osteuropäischen Ansätzen werden ebenso deutlich wie die übergreifenden Themen und formalen Experimente.

Marktinformation und Verfügbarkeit

Der Bildband ist für 58,00 Euro in Deutschland, 59,90 Euro in Österreich und 68,00 CHF in der Schweiz erhältlich. Die ISBN 978-3-7774-4579-3 erleichtert die Bestellung über den Fachbuchhandel oder Online-Plattformen. Nicht wundern: Das Cover in den Katalogen und auf der Verlagswebsite stimmt oft (noch?) nicht mit dem der gedruckten Ausgabe überein.

Fazit

„European Realities“ ist weit mehr als eine kunsthistorische Bestandsaufnahme. Es ist eine Einladung, die vielfältigen Strategien der Wirklichkeitsaneignung in der Malerei einer Umbruchszeit neu zu entdecken und für die eigene kreative Praxis fruchtbar zu machen. Die Auseinandersetzung mit den hier versammelten Werken kann den Horizont erweitern und die eigene visuelle Sprache bereichern – trotz der genannten stilistischen Hürden in den Begleittexten. Die visuelle Opulenz und die thematische Tiefe machen diesen Band zu einer wichtigen Publikation für alle, die Bilder nicht nur konsumieren, sondern sie verstehen und gestalten wollen.

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Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

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