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Brennweiten und Perspektiven

Verschiedene Brennweiten werden oft mit unterschiedlichen Perspektiven in Verbindung gebracht. Das stimmt natürlich nicht, weil die Perspektive ja nur vom Aufnahmestandpunkt und der Entfernung abhängt. Und dennoch: Etwas Wahres ist daran. Die Sache ist ein bisschen komplizierter …

Eigentlich wollte ich heute zur alten Streitfrage Stellung beziehen, ob man besser mit Festbrennweiten oder Zooms fotografiert, aber dann wurde mir klar, dass ich so viel über die Grundlagen schreiben müsste, dass die meisten Leser das Interesse verloren hätten, bevor ich zum Punkt gekommen wäre. Daher beschäftige ich mich erst einmal mit der Frage, in wieweit man Objektiven unterschiedlicher Brennweiten jeweils eine bestimmte Bildwirkung zuschreiben kann. In der nächsten Woche komme ich dann auf Zooms vs. Festbrennweiten zurück.

Gelegentlich höre oder lese ich, kurze Brennweiten würden die Proportionen verzerren, weshalb Porträtaufnahmen mit Ultraweitwinkeln Knollennasen und Schrumpfohren produzierten, während lange Brennweiten eine geraffte Perspektive zeigten und Gesichter pfannkuchenflach abbildeten. Manche glauben sogar, dass Kamerasysteme mit kleineren Sensoren anders abbilden würden, weil ihre Objektive ja eine besonders kurze Brennweite hätten.

Tatsächlich lässt sich aus der Brennweite als solcher überhaupt nichts über die Abbildungscharakteristik ablesen. Was für ein Bild entsteht, hängt vom Bildwinkel ab, der zu gleichen Teilen von der Brennweite und der Sensorgröße bestimmt wird. Der Anteil der Sensorgröße wird durch den Umrechnungsfaktor in eine kleinbildäquivalente Brennweite berücksichtigt, und mit äquivalenten Brennweiten erhält man unabhängig vom Sensor prinzipiell identische Bilder.

Aber auch der Bildwinkel eines Objektivs ist nicht ausschlaggebend für die Perspektive. Wenn ich zwei Personen gleicher Größe fotografiere, von denen eine rund einen Meter hinter der anderen steht, hängt deren unterschiedliche Abbildung allein von der Aufnahmeentfernung ab. Aus einer Distanz von einem Meter zur vorderen Person würde die hintere, zwei Meter entfernte Person nur halb so groß wie die vordere abgebildet. Aus 10 Metern Entfernung schrumpft der Größenunterschied dagegen auf nur noch 9 Prozent. Dieser Effekt zeigt sich bei jeder Brennweite: Ob man aus der größeren Distanz mit einer langen Brennweite fotografiert oder aus einer Weitwinkelaufnahme einen entsprechenden Ausschnitt wählt, macht für die Bildperspektive keinen Unterschied.

Die Verzerrungen in Ultraweitwinkelporträts entstehen also nicht durch die kurze Brennweite oder den großen erfassten Bildwinkel, sondern durch die kurze Aufnahmedistanz, die für eine formatfüllende Abbildung nötig ist. Entsprechend ist auch die geraffte Tiefenstaffelung in Teleaufnahmen eine Folge der großen Entfernung, die ebenfalls durch den Wunsch nach einer formatfüllenden Abbildung erzwungen ist.

Und trotzdem … Die Assoziation von Brennweiten und Bildwinkeln mit Abbildungscharakteristiken beruht nicht auf Einbildung oder einem Missverständnis, sondern ist oft real. Sie ist nicht universell gültig, eben weil es für die Perspektive letztendlich auf die Entfernung ankommt, aber als Faustregel kann man solche Assoziationen durchaus gelten lassen. Warum ist das so?

Genau genommen ist es nicht die absolute Aufnahmedistanz, die für die Bildwirkung entscheidend ist, sondern deren Relation zur Tiefenausdehnung der Motive. Wenn man ein flaches Motiv fotografiert, spielt die Aufnahmeentfernung keine nennenswerte Rolle; die Bilder sehen aus jeder Distanz gleich aus. Bei einem Porträt sind die rund 15 Zentimeter zwischen der Nasenspitze und den Ohren relevant, und eine Aufnahme aus rund anderthalb Metern – also der zehnfachen Distanz – reicht für eine verzerrungsarme Abbildung aus. Wenn wir dagegen ein Auto fotografieren, ist ein größerer Abstand nötig, damit die Proportionen zwischen Frontpartie und Heck stimmen.

Mit einer vorgegebenen Brennweite formatfüllend aufgenommene Kugeln haben immer die gleiche räumliche Wirkung, egal wie groß sie sind und wie groß die Aufnahmedistanz ist.

Stellen wir uns die Welt unserer Fotomotive einmal so vereinfacht vor, wie es Physiker gerne tun, nämlich als lauter Kugeln unterschiedlicher Größe, von Zentimetern über Meter bis zu Kilometern. Wenn ich nun mit einem Objektiv einer bestimmten Brennweite fotografiere, sagen wir 50 mm an einer Kleinbildkamera oder einer äquivalenten Brennweite bei Verwendung eines anderen Bildformats, dann muss ich die großen Kugeln zwangsläufig aus einer größeren Entfernung fotografieren als die kleinen, um sie formatfüllend abzubilden. Die größeren Kugeln haben aber auch eine größere Tiefe; diese entspricht annähernd dem halben Kugeldurchmesser. Bei einer formatfüllenden Abbildung ist die Aufnahmeentfernung proportional zum Kugeldurchmesser, und da das auch für die (sichtbare) Tiefe des Kugelmotivs gilt, ist die Perspektive immer dieselbe, ganz egal wie groß die Kugeln sind – alle meine Kugelfotos sehen gleich aus. Wechsle ich das Objektiv und fotografiere stattdessen mit einer längeren oder kürzeren Brennweite, dann muss ich eine größere oder kleinere Aufnahmeentfernung wählen, weshalb meine Bilder eine andere Perspektive zeigen, aber wiederum ist sie bei großen wie kleinen Kugeln dieselbe – die Perspektive hängt dem Anschein nach doch vom Objektiv ab. In Wirklichkeit bleibt zwar die Entfernung entscheidend, aber diese wählen wir ja abhängig von der Größe des Motivs so, dass es mit dem Bildwinkel des Objektivs formatfüllend aufgenommen wird.

Brennweiten und Perspektiven

In der Realität, in der unsere Motive ganz unterschiedliche Formen haben, gilt das nicht mehr so uneingeschränkt. Eine typische Aufnahmeentfernung hängt zwar tatsächlich von der Größe des Motivs ab; Menschen fotografieren wir aus wenigen Metern Entfernung, Gebäude aus zig Metern und Gebirge im Abstand von mehreren Kilometern. Die Proportionen sind aber nicht immer so regelmäßig wie bei den Kugeln. Menschen sind vor allem hoch, deutlich weniger breit und (abhängig vom Körpergewicht) noch weniger tief. Betrachten wir allerdings nur den Kopf, sind die drei Dimensionen schon näher beieinander. Im Groben stimmt es immerhin: Objektive zeigen so etwas wie eine charakteristische Perspektive, nicht weil diese doch von der Brennweite oder dem Bildwinkel statt von der Entfernung abhinge, sondern weil die typische Aufnahmeentfernung proportional zur Größe des Motivs ist und größere Motive auch meist eine größere Tiefenausdehnung haben. Daher ist die Bildwirkung bei Fotos von Personen, Gebäuden und Gebirgen ähnlich, wenn der Bildwinkel derselbe ist; nur der Maßstab ändert sich.

Die entscheidende Bedeutung der Entfernung muss man trotzdem immer im Hinterkopf behalten. Wer mit einem Weitwinkelobjektiv aus großer Distanz fotografiert und dann nur einen kleinen Ausschnitt des Bildes verwendet, erhält dieselbe perspektivische Wirkung wie mit einer Tele-Aufnahme aus dieser Entfernung – nur mit einer deutlich geringeren Auflösung.

In der nächsten Woche geht es dann darum, weshalb die Verwendung eines Zooms legitim ist, es aber trotzdem gute Argumente für eine Beschränkung auf wenige Festbrennweiten gibt.

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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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5 Kommentare

  1. Man kann die Sprache der Marketingleute unterstützen und seitenlange Blogs oder Artikel schreiben. Oder auch einfach an einem einzigen Foto klar darstellen, dass es keine wundersamen Brennweitenverlängerung gibt, nur weil man einen kleineren Sensor verwendet:
    https://www.fotomagazin.de/technik/wie-wichtig-ist-die-sensorgroesse?utm_source=sendinblue&utm_campaign=FOTO_redakt_26012023&utm_medium=email

    Dann wird man auch erkennen können, dass man bei einem kleineren Sensor für den selben Bildausschnitt eine deutlich kürzere Brennweite benötigt. Wenn jemand jemals selbst mit unterschiedlichen Brennweiten fotografiert hat wird festfestellt haben, dass bei kleinen Objektabständen bei kürzeren Brennweiten zu Abbildungen kommt, die man auch als Weitwinkelverzerrungen bezeichnet.

    Wer sich 100 oder 130 Jahre alte Fotos, gemacht mit Fachkameras, von Innenräumen eines Schlosses ansieht wird feststellen, dass man solche Ansichten mit keiner Digitalkamera machen kann. Weil eben, auch bei den digitalen „Großformat“-Sensoren der selbe Ausschnitt nur mit viel kürzeren Brennweiten zu schaffen sind.
    Man kann zwar mit T/S-Objektiven auch bei Digitalkameras vieles schaffen, doch der selbe Ausschnitt wäre nur mit der selben Brennweite wie beim Originalfoto erreichbar. Damit man den selben Bildausschnitt schafft, müßte man jedoch von viel weiter entfernt fotografieren. Allerdings ist da üblicherweise die Wand zum nächsten Raum im Weg, auch bei Raumgrößen von 100 oder 150 m². Also muss man für die selbe „Perspektive“, also das selbe Bild, auch heute analoge Fachkameras verwenden. Mit großem Filmmaterial. Dafür den Begriff „Perspektive“ zu verwenden mag zwar populär sein, doch auch hier wäre ein anderes Wort vorzuziehen. Doch wer die „Brennweitenverlängerung“ standhaft verteidigt, mag auch „Perspektive“ verwenden.

    1. Mit meinem hier als Referenz angeführten Kollegen Andreas Jordan, mit dem ich schon vor mehr als 20 Jahren zusammengearbeitet habe und mit dem ich bis heute regelmäßig kooperiere, gibt es keinen Dissens.

    2. „Damit man den selben Bildausschnitt schafft, müßte man jedoch von viel weiter entfernt fotografieren.“

      Das stimmt aber nur, wenn man das gleiche Objektiv verwendet. Eher unwahrscheinlich.

      „Also muss man für die selbe Perspektive, also das selbe Bild, auch heute analoge Fachkameras verwenden.“

      Mit der gleichen äquivalenten Brennweite nicht. Da wären Perspektive (Standpunkt) und Bildausschnitt identisch. Also welche Wunder-Brennweite wurde damals verwendet, mit der man heute nicht mehr fotografieren kann? Ernstgemeinte Frage.

  2. pedro70: Völlig korrekt: Wenn der Aufnahmestandpunkt identisch ist und eine passende, in jedem Fall aber
    kürzere, Brennweite zum Einsatz kommt, ist auch das abgebildete Motiv identisch
    in der Darstellung, egal, ob Schloss-Innenraum oder Landschaft.
    Das lernen unsere Auszubildenden im Fotografenhandwerk bereits im ersten Lehrjahr
    in einer praktischen Übung.
    Beim Versuch, historische Motive vom gleichen Standpunkt aus „deckungsgleich“
    mit einer kleinformatigen Kamera aufzunehmen, steht man allerdings vor der
    Schwierigkeit, dass sich die Kameraposition und Ausrichtung fast unmöglich hundertprozentig
    rekonstruieren lässt. Noch schwieriger wird es, wenn bei der historischen Aufnahme mit
    Kameraverstellung gearbeitet wurde, wie beim Großformat vor allem in der
    Architekturfotografie üblich.
    Dass man, um ein identisches Abbild (z.B. eines Innenraums) zu erhalten, einen größeren
    Aufnahmeabstand einnehmen müsste, ist jedenfalls Unsinn -und die Frage nach
    dem „Wunderobjektiv“ wird daher wohl unbeantwortet bleiben.

    1. Ich als – in erster Linie – kreativer Bildbearbeiter sehe das eh viel pragmatischer als viele Foto-Puristen: Objektive sind doch nur Krücken, um eine Szene in den Rechner zu bekommen. Wenn ich denselben perspektivischen Fotoausschnitt einer Szene haben möchte, aber nicht über dasselbe eingesetzte Objektiv verfüge, nehme ich halt ein sphärisches Panorama der Szene auf. Die Perspektive ist dieselbe, den Ausschnitt kann ich selbst bestimmen, die Auflösung kann ich über die Wahl der Brennweite und die Anzahl der Aufnahmen selbst festlegen. Für die etwaige Nachbildung der Unschärfen nutze ich selektiv eine KI und/oder Filter. Perspektivabweichungen gleiche ich automatisiert oder manuell an. No problem. Probleme sind immer nur dann vorhanden, wenn man sich – aus welchen Gründen auch immer – auf rein optisch-technische Lösungen verlassen will.

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