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Vom „Vibe Coding“ zum „Vibe Imaging“: Eine neue Poesie der illustrativen Fotografie

Ein neuer Arbeitsmodus aus der KI-Entwicklung, das „Vibe Coding“, findet sein Echo in der Bildgestaltung. Doch während die dokumentarische Fotografie unberührt bleibt, revolutioniert „Vibe Imaging“ die Welt der konzeptionellen und illustrativen Bildwelten.

Der Anruf eines befreundeten Entwicklers erreichte mich spät am Abend. Sein Ton war nicht so sachlich wie üblich, sondern völlig irritiert. Er habe heute hunderte Zeilen Code geschrieben, ohne eine einzige selbst zu tippen. Er beschrieb einen Prozess, den der KI-Pionier Andrej Karpathy als „Vibe Coding“ bezeichnet: Ein Dialog mit einer KI, bei dem die Intention, die Atmosphäre und das Ziel eines Programms in natürlicher Sprache beschrieben werden, während die Maschine die syntaktische Umsetzung übernimmt.

Das Konzept ließ mich nicht mehr los, denn es spiegelt eine Entwicklung wider, die sich in einem ganz bestimmten Bereich der Fotografie abzeichnet. Nennen wir es „Vibe Imaging“. Es geht hierbei nicht um die Fotografie, die einen einzigartigen, realen Moment festhält. Es geht nicht um den entscheidenden Augenblick des Reporters oder die authentische Porträtaufnahme eines bestimmten Menschen. Es geht um die illustrative Fotografie – jenen Bereich, in dem Bilder nicht in der Wirklichkeit gefunden, sondern in der Fantasie für einen bestimmten Zweck erdacht und komponiert werden: als Illustration, für Werbung, Editorials, Buchcover oder konzeptionelle Kunst.

Die Domäne des Illustrativen

Vibe Imaging ist die Kunst, eine visuelle Idee durch Dialog zu realisieren. Statt Lichtformer zu positionieren, Requisiten zu arrangieren und Modelle zu instruieren, formuliert der Bildschaffende eine präzise, in gewisser Weise an eine Form von Poesie erinnernde verbale Vision: „Eine surreale Szene im Stil von Magritte, in der eine antike Statue in einer minimalistischen Betonarchitektur steht, beleuchtet von warmem, seitlichem Abendlicht, das lange Schatten wirft.“ Die KI agiert als unendlich geduldiger und fähiger Assistent, der diese Vision in Pixel übersetzt.

Hier wird die Abgrenzung zur dokumentarischen Fotografie fundamental. Die dokumentarische Strategie zielt darauf ab, eine gesellschaftliche Wirklichkeit zu interpretieren und zu kontextualisieren. Sie lebt von der Authentizität des Moments, von der physischen Präsenz des Fotografen an einem Ort zu einer bestimmten Zeit. Vibe Imaging hingegen entkoppelt die Bildidee vollständig von einem realen Ereignis. Es ist die reine Visualisierung eines Konzepts, eine Form der Bildsynthese, die näher an der Malerei oder dem 3D-Rendering steht als am klassischen Fotojournalismus.

Handwerk im Wandel: Direktor statt Dokumentar

Was bedeutet dies für das fotografische Handwerk? Es bedeutet eine Aufspaltung. Das Handwerk des Dokumentarfotografen – Antizipation, Geduld, Empathie, technisches Geschick unter unkontrollierbaren Bedingungen – bleibt unersetzlich.

Doch im illustrativen Feld verschiebt sich die Kernkompetenz dramatisch. Die technische Meisterschaft über Kamera und Licht weicht der Fähigkeit zur präzisen Artikulation und visuellen Kuration. Der Fotograf wird zum Regisseur, zum Art Director seiner eigenen Visionen.

Die alte Maxime von Henri Cartier-Bresson, der „entscheidende Moment“, dient hier als perfekter Kontrapunkt. Sein Konzept beschreibt das meisterhafte Erfassen einer flüchtigen, realen Konstellation. Der entscheidende Moment des Vibe Imaging liegt hingegen in der Formulierung des perfekten Prompts – jenem sprachlichen Schlüssel, der eine komplexe visuelle Idee exakt auf den Punkt bringt. Es ist ein Wandel vom reaktiven Erfassen zum proaktiven Gestalten.

Die neue Grammatik der Bildkonstruktion

Dieser Wandel erfordert eine neue Art von Expertise. Das Vokabular des Vibe Imagers ist eine anspruchsvolle Mischung aus Kunstgeschichte, Filmtheorie, Designtheorie und einem tiefen Verständnis für Licht und Komposition. Es geht darum, nicht nur zu wissen, wie Rembrandt-Licht aussieht, sondern diese Qualität so in Worte zu fassen, dass eine KI sie interpretieren kann. Es ist eine neue Form der visuellen Alphabetisierung, bei der die Sprache zum direkten Gestaltungswerkzeug wird.

Wir beobachten bereits die Entstehung eines spezifischen Jargons, eines Dialogs zwischen Mensch und Maschine, der emotionale Beschreibungen („eine melancholische Stimmung“) mit technischen Parametern („kurze Brennweite, geringe Schärfentiefe“) und stilistischen Referenzen („im Stil von Künstler XX“) kombiniert. Die Fähigkeit, diese „Sprache“ fließend zu beherrschen, wird zur entscheidenden Qualifikation für illustrative Bildproduzenten.

Der Mensch als Visionär

Trotz der fortschrittlichen Technologie bleibt die menschliche Vision der Ausgangspunkt jeder überzeugenden Arbeit. Eine KI kann nur synthetisieren, was sie gelernt hat; sie hat keine eigene Intention, keine eigene Geschichte zu erzählen. Die Qualität des Ergebnisses hängt daher direkt von der Tiefe und Originalität der menschlichen Idee ab. Ein generischer Prompt führt zu einem generischen Bild. Eine tief durchdachte, originelle Vision, präzise formuliert, kann hingegen zu atemberaubenden, nie zuvor gesehenen Bildwelten führen.

Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

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