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James Webb: Das „unmögliche“ Selfie

Nachdem das James Webb Space Telescope seinen Einsatzort, den Lagrangepunkt L2 jenseits der Mondbahn, erreicht hat, wird es jetzt kalibriert, um in wenigen Monaten scharfe Bilder aus fast dem ganzen beobachtbaren Teil des Weltalls liefern zu können. Schon jetzt hat es ein Selfie aufgenommen, nämlich ein Bild seines eigenen Hauptspiegels. Aber Moment einmal: Galt das nicht eigentlich als unmöglich?

James Webb: Das „unmögliche“ Selfie
Noch wird ein Stern 18 mal abgebildet, nämlich von jedem der 18 Spiegelelemente an einer anderen Stelle, und perfekt scharf sind die Bilder auch noch nicht. Das wird sich durch die Kalibrierung des Hauptspiegels ändern. (Bild: NASA)

Das James Webb Space Telescope (JWST) befindet sich noch immer in der Abkühlungsphase, aber seine Kamera für das nahe Infrarot (NIRCam = „Near Infrared Camera“) ist bereits einsatzbereit und wird jetzt zur Kalibrierung des Hauptspiegels genutzt, der aus 18 einzeln beweglichen Elementen besteht.

Manche wundern sich ja, dass das Abkühlen so lange dauert – ist es im Weltraum nicht bitterkalt, sofern man sich im Schatten aufhält (und in der Sonne dafür extrem heiß)? Das stimmt schon, nur gibt es im Weltall keine Luft und keinen Wind, die Wärme ableiten könnten, so dass die gefühlte Temperatur nicht ganz so niedrig ist. Abkühlung ist dort draußen nur durch die Abstrahlung der Wärme möglich, und das dauert eben so lange. Die Kamera für die noch längeren Wellenlängen des mittleren Infrarot (MIRI = „Mid-Infrared Instrument“) ist deshalb noch nicht bereit, denn sie ist für die Wärme empfindlich, die sie selbst gerade aufgrund ihrer Temperatur abstrahlt.

Die ersten Testaufnahmen zeigen, dass die Spiegelelemente bereits grob richtig ausgerichtet sind, denn die Bilder des für den Test genutzten Sterns sind zumindest nicht völlig unscharf und liegen nahe beieinander – im Bild oben ist bei jeder Abbildung angegeben, von welchem Teil des Spiegels sie erzeugt wurde. Das Feintuning wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen, dürfte aber problemlos sein.

James Webb: Das „unmögliche“ Selfie
Ein Bild des Hauptspiegels des JWST, aufgenommen von dessen NIRCam (die sich in dessen zentralem Sechseck befindet). (Quelle: NASA)

Im Zuge der ersten Schritte zur Kalibrierung haben die NASA-Ingenieure mit der NIRCam auch eine Art Selfie des Weltraumteleskops aufgenommen, nämlich ein (etwas unscharfes) Foto des Hauptspiegels. Das kam ein bisschen überraschend, denn in der kritischen Phase, in der sich der Haupt- und der Sekundärspiegel sowie der Sonnenschirm entfalteten, konnte die NASA keine Live-Bilder davon zeigen. Dazu wären Kameras am Sekundärspiegel oder an dessen Stützstreben nötig gewesen, aber diese hätte auch noch eine Lichtquelle benötigt – alle interessanten Teile des Teleskops liegen ja im Schatten seines Sonnenschirms – und wären später im Betrieb im Wege gewesen. Stattdessen verließ sich die NASA daher auf die zahlreichen Positionsgeber, deren Daten sehr präzise Daten darüber übermittelten, wie die Entfaltung voran schritt.

Und nun also doch ein Selfie? Es gibt ja das beliebte Genre der Spiegel-Selfies, und ein Spiegelteleskop wie das JWST verfügt – wenig verwunderlich – über jede Menge Spiegel, wozu neben dem Haupt- und dem Sekundärspiegel auch noch diverse Spiegel und Strahlenteiler im Kameramodul gehören. Die NIRCam blickt über fünf andere Spiegel auf den Hauptspiegel, aber sie soll eigentlich nicht diesen abbilden, sondern das Licht von Sternen und Galaxien, das dieser reflektiert. Für ein Selfie musste die NIRCam also lediglich anders fokussieren – nicht auf das eigentliche Motiv, sondern auf den Hauptspiegel. Das ist allerdings so, als wollte man mit einer Kamera eine Linse ihres eigenen Objektivs abbilden – ohne einen zusätzlichen Spiegel außerhalb von Kamera und Objektiv funktioniert das nicht.

Dass es in diesem Fall trotzdem funktioniert, ist einer Linse zu verdanken, die in den Strahlengang der NIRCam eingeschwenkt werden kann. Diese Pupil Imaging Lens ermöglicht es, die Austrittspupille abzubilden, was bei einer Fotokamera ein Bild der Blende wäre; bei einem Spiegelteleskop ist es ein Bild des Hauptspiegels – Blendenlamellen wie in einem Objektiv gibt es hier nicht.

James Webb: Das „unmögliche“ Selfie
Der schematische Aufbau der NIRCam aus Sensoren, Spiegeln, Strahlenteilern und Filterrädern – es sind eigentlich zwei Kameras für die Wellenlängen von 600 nm bis 2,3 µm beziehungsweise 2,4 bis 5,0 μm. Unten ist die Pupil Imaging Lens zu sehen, die in den Strahlengang der Kamera für die (relativ) kurzen Wellenlängen geschwenkt werden kann. (Quelle: NASA)

Dass ein solches Selfie normalerweise unmöglich ist, folgt aus der Linsengleichung, auf die ich unter anderem hier schon einmal eingegangen bin. Obwohl hier von Linsen die Rede ist, ist sie auch auf ein Spiegelteleskop anwendbar. Die Linsengleichung beschreibt den Zusammenhang zwischen der Gegenstandsweite (der Entfernung des Motivs) und der Bildweite, also der Entfernung, in der ein scharfes Bild hinter dem Objektiv entsteht. Je weiter wir uns mit der Kamera dem Motiv nähern, desto größer ist die Bildweite, und desto länger muss das Objektiv werden – deshalb braucht man Zwischenringe oder Balgen, um mit dem so verlängerten Objektiv weiter in den Makrobereich vorzudringen. Bei einer Gegenstandsweite gleich der Brennweite ist eine theoretische Grenze erreicht – die Bildweite ist dann unendlich (erfordert also ein unendlich langes Objektiv), und von Motiven in noch kürzerer Distanz entsteht gar kein reelles, von einem Sensor auffangbares Bild mehr. Der Hauptspiegel eines Spiegelteleskops ist ebenso wie die Linsen eines gewöhnlichen Objektivs viel zu nahe, als dass man darauf scharfstellen könnte.

Die Pupil Imaging Lens fungiert nun als alternatives Objektiv, das auf den Hauptspiegel fokussiert ist – sozusagen ein Objektiv im Objektiv. Ihr Zweck liegt allerdings nicht darin, die Wünsche einer nach Selfies gierenden Öffentlichkeit zu erfüllen; sie soll vielmehr die Kalibrierung unterstützen. Dass von den 18 Spiegelsegmenten im Selfie nur eines hell aufleuchtet, weist darauf hin, dass die Segmente noch nicht aufeinander abgestimmt sind. Alle Teile des Spiegels sollen denselben Punkt abbilden und exakt gleich fokussiert sein; hier sieht man allerdings, dass erst ein Segment den angepeilten Stern abbildet.

Das gilt entsprechend auch für Objektive, wie wir sie aus der Fotografie kennen: Ganz egal, welchen Weg das Licht durch dessen Linsen nimmt, soll es am Ende auf denselben Punkt auf dem Sensor treffen. Ein Bild der Blende aus der Sicht des Sensors muss daher eine einheitliche Farbe und Helligkeit haben; ist das nicht der Fall, haben wir nicht richtig scharfgestellt. Auf diesem Zusammenhang basiert übrigens auch der Phasendetektions-Autofokus mit dem Bildsensor, wie ihn viele spiegellose Kameras nutzen. Die neue OM-1 von OM Digital Solution (ehemals Olympus) beispielsweise nutzt vier Fotodioden unter jeder Mikrolinse ihres Sensors, um vier Wege des Lichts zum selben Sensorpixel zu unterscheiden, und kann so einen AF mit Kreuz-Messfeldern realisieren.

16. März 2022: Heute hat die NASA die erfolgreiche Kalibrierung des JWST verkündet. Dass die Segmente des Hauptspiegels jetzt perfekt ausgerichtet sind, beweist das neueste mit der Pupil Imaging Lens aufgenommene Selfie – alle Spiegel schauen nun in dieselbe Richtung und reflektieren das Licht desselben für den Abgleich genutzten Sterns.

Nach erfolgreicher Kalibrierung: Ein Bild des Hauptspiegels des JWST, aufgenommen von dessen NIRCam. (Quelle: NASA)

Nun bleibt den NASA-Ingenieuren nur noch, die Kalibrierung mit den übrigen Kameras des JWST zu überprüfen und gegebenenfalls etwas zu vermitteln, damit alle Kameras Bilder mit maximaler Schärfe erzeugen.

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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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