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Endgegner Authentizität: Warum die Bildästhetik der Gen Z professionelle Workflows pulverisiert

Die professionelle Bildgestaltung steht vor ihrem Endgegner: der radikalen Authentizität der Generation Z. Während auf Plattformen wie BeReal jede Form der Nachbearbeitung als Verrat am Moment gilt, optimieren dieselben Jugendlichen ihre Selfies mit KI-Filtern bis zur Unkenntlichkeit. Dieser visuelle Spagat zwischen ungeschönter Realität und algorithmischer Perfektion ist kein Nischentrend, sondern eine tektonische Verschiebung, die das Fundament der kommerziellen Fotografie und Postproduktion erschüttert. Für Bildgestalter, deren Expertise auf technischer Perfektion und nuancierter Retusche fußt, stellt sich eine existenzielle Frage: Wie bleibt man relevant, wenn die eigenen Kernkompetenzen plötzlich wertlos oder, schlimmer noch, unerwünscht sind?

Die Diktatur des Echten: BeReal als Fanal

Der Aufstieg von Apps wie BeReal ist das deutlichste Symptom dieser Entwicklung. Das Konzept ist eine Kriegserklärung an die kuratierte Hochglanzwelt von Instagram: Einmal am Tag, zu einer zufälligen Zeit, fordert die App zu einer simultanen Aufnahme mit Front- und Rückkamera auf. Keine Filter, keine Uploads aus der Galerie, keine zweite Chance. Das Ergebnis ist eine Flut von Bildern, die alles zelebrieren, was professionelle Fotografen zu vermeiden suchen: unvorteilhaftes Licht, chaotische Hintergründe, verwackelte Kompositionen und ungeschminkte Gesichter. Die Ästhetik des Unperfekten wird zum Dogma.

Diese Bewegung ist mehr als eine spielerische Laune. Die aktuelle JIM-Studie 2024 belegt diesen Wandel mit harten Zahlen: Die tägliche Online-Zeit von Jugendlichen sank auf 201 Minuten – der niedrigste Wert seit 2016. Weniger Zeit, aber ein höheres Verlangen nach Substanz. Statt endloser Feeds wird gezielt nach echten Verbindungen und glaubwürdigen Momenten gesucht. Für Bildprofis bedeutet dies eine schmerzhafte Inversion ihrer Fähigkeiten. Jahrzehntelang antrainierte Techniken zur Hautretusche, zur Schärfung von Details oder zur perfekten Farbabstimmung werden nicht nur überflüssig, sie wirken kontraproduktiv. Die neue, gefragte Kompetenz ist die kontrollierte Imperfektion – die Fähigkeit, Authentizität glaubhaft zu inszenieren, ohne dass die Inszenierung sichtbar wird. Ein Balanceakt, der mehr psychologisches Gespür als technisches Wissen verlangt.

Der stille Siegeszug der KI: Photoshop im Abseits?

Die Ironie dieser Entwicklung könnte kaum größer sein. Während die eine Hand das unretuschierte Bild hochhält, wischt die andere durch KI-gestützte Filter auf TikTok, Instagram und Snapchat. Die JIM-Studie zeigt unmissverständlich, wo die Bildbearbeitung für Jugendliche tatsächlich stattfindet: nicht in dedizierten Programmen, sondern direkt in den Social-Media-Anwendungen. 38 Prozent nutzen die Bearbeitungsfunktionen von Snapchat, 36 Prozent die von Instagram und 28 Prozent die von TikTok. Klassische Werkzeuge wie Adobe Lightroom (5 Prozent) oder Photoshop Express (4 Prozent) spielen eine untergeordnete Rolle.

Hier vollzieht sich ein stiller, aber umso wirkungsvollerer Coup. Wo Profis in Photoshop mit Ebenenmasken, Gradationskurven und Frequenztrennung hantieren, wischen Jugendliche durch KI-gestützte Style-Filter, nutzen automatische Hintergrundentfernungen und lassen Algorithmen die „Magie“ vollbringen. Marktanalysten prognostizieren ein explosives Wachstum für den Markt der KI-Bildbearbeitung. Diese Tools demokratisieren die Postproduktion radikal. Sie erfordern keine Einarbeitungszeit, keine Kenntnis von Fachbegriffen und keine teure Hardware. Sie liefern sofortige, oft verblüffend gute Ergebnisse und untergraben damit das Alleinstellungsmerkmal des professionellen Bildbearbeiters: seine technische Expertise. Die Frage, die sich stellt, ist nicht mehr, ob KI traditionelle Workflows verdrängt, sondern wie schnell.

Retro-Futurismus: Die Y2K-Ästhetik als Stilmittel

Als dritte Kraft in diesem visuellen Spannungsfeld etabliert sich eine nostalgische Rückbesinnung auf eine Ära, die viele ihrer Anhänger nie bewusst erlebt haben: die Ästhetik der frühen 2000er-Jahre, bekannt als Y2K. Verpixelte Grafiken, metallische Farbverläufe, Lens Flares und eine bewusst „billige“ Anmutung, die an die ersten Digitalkameras und simple Bildprogramme erinnert, sind zum begehrten Stilmittel avanciert. Dieser Trend ist kein simpler Rückgriff, sondern eine Neuinterpretation. Es geht nicht darum, alte Technik zu nutzen, sondern deren visuelle Artefakte mit modernen Mitteln präzise zu simulieren.

Für Bildgestalter eröffnet sich hier eine faszinierende Nische. Die authentische Rekonstruktion dieser Ästhetik verlangt ein tieferes Verständnis für die damaligen technischen Limitierungen. Es reicht nicht, einen „Pixelate“-Filter anzuwenden. Man muss wissen, wie Kompressionsalgorithmen um die Jahrtausendwende funktionierten, welche Farbräume CCD-Sensoren abbildeten und welche optischen Fehler günstige Linsen produzierten. Wer diese visuelle Sprache beherrscht, kann einen Look anbieten, der sich deutlich von generischen KI-Filtern und der rohen Authentizität von BeReal abhebt und eine spezifische, kulturell aufgeladene Stimmung transportiert.

Synthese statt Kapitulation: Eine neue Rolle des Bildprofis

Die Konfrontation mit diesen drei mächtigen Trends – radikale Authentizität, KI-Automatisierung und Retro-Nostalgie – zwingt zu einer Neudefinition der professionellen Rolle. Die reine technische Ausführung verliert an Wert. Die Zukunft des Bildprofis liegt nicht mehr in der Beherrschung von Werkzeugen, sondern in der Rolle des visuellen Kurators und Stil-Regisseurs. Seine Aufgabe ist es, kontextabhängig zu entscheiden, welche visuelle Sprache für eine bestimmte Botschaft die richtige ist. Er muss die rohe Energie von BeReal ebenso kanalisieren können wie die glatte Perfektion eines KI-Filters oder den nostalgischen Charme eines Y2K-Looks.

Die Expertise verschiebt sich vom „Wie“ zum „Warum“. Es geht um die strategische Anwendung von Ästhetiken, um die bewusste Brechung von Sehgewohnheiten und um die Schaffung einer kohärenten visuellen Identität. Wer diese neue Grammatik der Bilder nicht nur versteht, sondern virtuos zu spielen lernt, wird auch in Zukunft unverzichtbar sein. Für die anderen könnte es eng werden – zumindest bis zum nächsten Trend.

Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

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