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Die Vermessung des Alterns: KI-Algorithmus FaceAge analysiert biologisches Alter anhand von Porträtfotos

Künstliche Intelligenz dringt immer tiefer in Bereiche vor, die bislang dem menschlichen Auge und Urteil vorbehalten schienen. Ein neuer Algorithmus namens FaceAge verspricht nun, das biologische Alter einer Person anhand eines einfachen Porträtfotos zu bestimmen. Dadurch eröffnen sich ebenso faszinierende wie diskussionswürdige Perspektiven, die weit über eine reine Spielerei hinausgehen. Wir beleuchten die Technik, die Potenziale und die Fallstricke dieser Entwicklung.

Stellen Sie sich vor, Ihre Kamera oder Ihre Bildbearbeitungssoftware könnte nicht nur das chronologische, sondern auch das biologische Alter Ihrer Modelle analysieren. Genau diesen Ansatz verfolgt der kürzlich im Fachjournal The Lancet Digital Health vorgestellte FaceAge-Algorithmus. Diese Technologie nutzt Deep Learning, um aus Gesichtsmerkmalen Rückschlüsse auf den inneren Alterungsprozess zu ziehen – ein Wert, der oft vom tatsächlichen Alter abweicht und interessante Implikationen für die visuelle Darstellung von Personen haben könnte.

Hinter den Kulissen von FaceAge: Technik und Training

Herzstück von FaceAge ist ein komplexes System auf Basis von Convolutional Neural Networks (CNNs). Diese netzwerkartigen Strukturen sind darauf trainiert, vielschichtige Muster in Bilddaten zu erkennen – im Falle von FaceAge jene subtilen visuellen Marker, die mit dem biologischen Alterungsprozess korrelieren. Um eine hohe Treffsicherheit zu erreichen, wurde der Algorithmus mit einem Datensatz von 58.851 Fotografien von augenscheinlich gesunden Individuen trainiert. Diese umfangreiche Datenbasis umfasste Personen unterschiedlichen Alters, Geschlechts und ethnischer Zugehörigkeit, um die Robustheit und Generalisierbarkeit des Modells zu gewährleisten und systematische Verzerrungen (Bias) zu minimieren.

Die Genauigkeit solcher Systeme wird üblicherweise mit dem mittleren absoluten Fehler (Mean Absolute Error, MAE) angegeben. FaceAge erreicht hier einen Wert von etwa 3,5 Jahren. Das bedeutet, die Abweichung zwischen dem von der KI geschätzten biologischen Alter und dem tatsächlichen biologischen Alter (sofern messbar) liegt im Durchschnitt bei dreieinhalb Jahren.

Praktische Relevanz für Fotografie und Bildbearbeitung

Für professionelle Fotografen und Bildbearbeiter könnten sich aus dieser Technologie neue Dienstleistungen und Werkzeuge ergeben:

  • Verfeinerte Porträtretusche: Anstatt einer pauschalen Verjüngung könnten Retuschen vorgenommen werden, die dem biologischen Alter entsprechen und so zu natürlicheren, authentischeren Ergebnissen führen. Ein Verständnis des biologischen Alters könnte helfen, die Hauttextur und -merkmale so zu optimieren, dass sie Vitalität und Gesundheit im Einklang mit dem inneren Zustand widerspiegeln.
  • Personalisierte Bildkonzepte: Fotografen könnten Kunden eine Analyse ihres biologischen Alters als Zusatzleistung anbieten und darauf basierend individuelle Bildkonzepte entwickeln, die bestimmte Aspekte hervorheben oder kaschieren.
  • Kreative Altersdarstellung: In der künstlerischen Fotografie und digitalen Kunst könnten Werkzeuge zur Altersprogression oder -regression, die auf biologischen Daten basieren, für innovative visuelle Erzählungen genutzt werden.
  • Integration in Software: Denkbar wären Plugins für gängige Bildbearbeitungsprogramme wie Adobe Photoshop oder Lightroom, die eine schnelle Analyse ermöglichen und altersadaptive Bearbeitungsvorschläge unterbreiten. Adobe zeigt bereits Interesse an KI-Integrationen, wie Kooperationen mit OpenAI belegen.

Grenzen und kritische Betrachtung

Trotz der vielversprechenden Genauigkeit gibt es auch kritische Aspekte und Limitationen zu bedenken:

  • Abhängigkeit von fotografischen Bedingungen: Die Zuverlässigkeit der Analyse kann durch Faktoren wie Beleuchtung, Kameraqualität, Auflösung und sogar den Gesichtsausdruck des Modells beeinflusst werden. Schlechte Lichtverhältnisse oder niedrig aufgelöste Bilder können wichtige Gesichtsmerkmale verschleiern.
  • Datenbias und Interpretierbarkeit: Obwohl FaceAge auf einem diversen Datensatz trainiert wurde, bleibt die Gefahr bestehen, dass KI-Modelle bei bestimmten demografischen Gruppen weniger präzise arbeiten, wenn diese in den Trainingsdaten unterrepräsentiert waren. Zudem ist die genaue Funktionsweise solcher „Black Boxes“ oft schwer nachzuvollziehen.
  • Ethische Implikationen: Der Einsatz solcher Technologien wirft Fragen hinsichtlich Datenschutz, Zustimmung und möglichem Missbrauch auf. Fotografen und Bildbearbeiter müssten sicherstellen, dass Klienten über die Anwendung informiert sind und ihre Einwilligung geben. Die potenzielle Nutzung für nicht-medizinische Zwecke, etwa bei der Altersverifikation oder im Personalwesen, ist ethisch sensibel.

Experten erkennen zwar den potenziellen klinischen Nutzen, mahnen aber zur Vorsicht und fordern strenge Validierungen sowie ethische Richtlinien. Die multimodale KI-basierte Vorhersage des biologischen Alters scheint anderen Methoden überlegen zu sein, was die Stärke des Ansatzes unterstreicht, aber die genannten Herausforderungen nicht mindert.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass KI-gestützte Analysen des biologischen Alters wie FaceAge ein spannendes Feld mit erheblichem Potenzial für die bildschaffende Zunft darstellen. Sie könnten die Art und Weise, wie Porträts bearbeitet und interpretiert werden, verändern und neue kreative sowie kommerzielle Möglichkeiten eröffnen. Gleichzeitig ist ein bewusster und kritischer Umgang mit den technologischen Möglichkeiten und ihren ethischen Implikationen unerlässlich. Die Entwicklung steht hier sicherlich erst am Anfang.

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Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

3 Kommentare

  1. Hallo Christoph,
    also ich erinnere mich, dass ich vor ca. 7 – 8 Jahren auf einer Ausstellung schon einen Computer gesehen hatte, der Ausstellungsbesucher fotografierte und deren Alter geschätzt hat. Eine kurze chatGPT-Recherche zeigt, dass man schon vor 2022 Genaugigkeiten von unter 3 Jahren erreicht hat.

    Zu FaceAge: Der Lancet-Artikel (https://www.thelancet.com/journals/landig/article/PIIS2589-7500(25)00042-1/fulltext) zeigt, dass es den Forschern nicht hauptsächlich auf die Altersschätzung ankam. Ich zitiere: „Our results suggest that a deep learning model can estimate biological age from face photographs and thereby enhance survival prediction in patients with cancer. Further research, including validation in larger cohorts, is needed to verify these findings in patients with cancer and to establish whether the findings extend to patients with other diseases. Subject to further testing and validation, approaches such as FaceAge could be used to translate a patient’s visual appearance into objective, quantitative, and clinically valuable measures.“

    Das hat wohl weniger etwas mit Fotografie und Bildbearbeitung zu tun.

    Grüße von
    Peter

    1. Bei FaceAge geht es gar nicht darum, das chronologische Alter präzise zu erkennen, also wie viele Jahre seit der Geburt vergangen sind, sondern man will Personen ihr biologisches Alter, also das tatsächliche Ausmaß der Alterungsprozesse, am Gesicht ablesen. Der Körper mancher Menschen ist stärker gealtert, als es ihr chronologisches Alter vermuten ließe, während andere biologisch jünger sind, als das Geburtsdatum im Pass besagt. Die Abschätzung des biologischen Alters durch die KI kann für medizinische Zwecke genutzt werden, wie im Zitat beschrieben, aber, wie Christoph oben erwähnt hat, auch für Bildbearbeitung und Fotografie.

  2. Nun habe ich FaceAge auch mal ausprobiert. Und ich muss sagen, ich bin begeistert! Allerdings weniger von der wissenschaftlichen Exaktheit als von der freundlichen Schätzung meines biologischen Alters auf weniger als 50%. Beim zweiten Versuch eine Minute später hatte ich mich erneut von 34 auf 28 Jahre verjüngt. Da falle ich der Rentenkasse wohl noch eine Weile zur Last.

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