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Die Renaissance der manuellen Belichtung

Über 100 Jahre lang mussten Fotografen Blende und Verschlusszeit selbst einstellen. Ab 1959 griffen dann die Blendenautomatik, die Zeitautomatik und schließlich die Programmautomatik dem Fotografen unter die Arme. Die Aufnahme optimal belichteter Fotos wurde damit einfacher und komfortabler, aber mit der neuen, spiegellosen Kameratechnik könnte die manuelle Belichtungssteuerung als Methode der Wahl zurückkehren: Die Renaissance der manuellen Belichtung.

Wohlgemerkt will ich hier nicht für eine Entschleunigung, für Slow Photography werben. Dagegen wäre zwar auch nichts zu sagen, so lange man nicht in eine reaktionäre „Früher war alles besser“-Haltung verfällt, aber darum geht es mir nicht. Ich möchte vielmehr zeigen, dass eine manuelle Belichtung bei spiegellosen Kameras oft die beste und bequemste Methode ist, die Bilder aufzunehmen, die einem vorschweben.

Die Renaissance der manuellen Belichtung
Bei spiegellosen Systemkameras ist es oft empfehlenswert, Blende und Verschlusszeit manuell zu wählen. Ein Belichtungskorrekturrad (wie es die hier gezeigte Fuji X-T2 hat) ist dann unnötig. (Quelle: Fuji)

Belichtungsprogramme


Die Belichtungsautomatik ist schon fast 60 Jahre alt: 1959 kamen mit der Agfa Optima und der Braun Paxette electromatic die ersten Kleinbildkameras auf den Markt, die Zeit und/oder Blende selbsttätig einstellten. Im Laufe der 70er Jahre setzten sich Belichtungsautomatiken auch bei den Spiegelreflexkameras durch. Die Minolta XD-7 (1977) ließ erstmals die Wahl zwischen Blenden- und Zeitpriorität und die Canon A-1 (1978) bot zusätzlich die Option einer Programmautomatik. Die TTL-Blitzbelichtungsmessung führte Olympus 1976 mit der OM-2 sein. Auch Motivprogramme, die Mehrfeldmessung und sogar die automatische Programmwahl auf Basis einer Szenenerkennung stammen aus der analogen Ära im vergangenen Jahrhundert.

Nachdem man auf den Auslöser einer analogen Kamera gedrückt hat, steht zwar schon weitgehend fest, wie das aufgenommene Bild am Ende aussehen wird, aber dieses Bild sieht man erst ein paar Stunden oder auch erst Tage später. Da es dann durchweg zu spät für eine zweite Chance ist, muss die Belichtung auf Anhieb stimmen. Vor Einführung der Belichtungsautomatik musste man mit einem Belichtungsmesser die Helligkeit des Motivs oder der Lichtquelle messen und dann die optimale Kombination von Verschlusszeit und Blende wählen, mit der die gemessene Helligkeit zu einer optimalen Belichtung führt. Belichtungsautomatiken erledigen diese Aufgabe vielfach schneller, machen den Fotografen flexibler und erlauben ihm, sich mehr auf die Bildgestaltung zu konzentrieren – oder jedenfalls war das die Idee.

Zu Beginn des Jahrhunderts wurden analoge SLRs zunehmend durch DSLRs ersetzt, bei denen man das Ergebnis gleich nach der Aufnahme auf dem Display kontrollieren kann – eine Praxis, die zu unrecht als „chimping“ verächtlich gemacht wird. Der optische Spiegelreflexsucher zeigt aber dasselbe, was er auch bei einer analogen SLR zeigt, und so änderte sich zunächst nichts an den populärsten Methoden, die Belichtung zu steuern, nämlich mit einer Halbautomatik mit Zeit- oder Blendenpriorität, oder einem Motivprogramm.


Immer Ärger mit der Automatik


Die Renaissance der manuellen Belichtung
Trotz allen Aufwands, den die Hersteller bei der Mehrfeldmessung treiben (der hier gezeigte RGB-Sensor stammt aus einer Nikon D610) erfordert das Ergebnis oft noch eine manuelle Korrektur. (Quelle: Nikon)

So schnell und bequem eine Belichtungsautomatik auch ist, bringt sie auch ihre eigenen Probleme mit sich. Die Belichtungsmessung der Kamera ist eine Objektmessung und lässt sich daher durch besonders helle oder besonders dunkle Motive in die Irre führen. Mit einem Handbelichtungsmesser könnte man in solchen Fällen statt des Motivs die Lichtquelle anmessen, aber bei einer Automatik mit TTL-Belichtungsmessung wäre das nicht praktikabel. Die Mehrfeldmessung, die einerseits besonders intelligent vorgehen soll, indem sie beispielsweise neben der Helligkeit auch den Szenenkontrast misst, irritiert andererseits durch sprunghafte Veränderungen der Belichtung, wenn man die Kamera nur ein wenig schwenkt oder sich das Motiv im Bild bewegt – die „intelligente“ Auswertung meint dann eine andere Art von Szene zu erkennen und bewertet die einzelnen Messwerte neu. Auch wenn sich die Entfernung zum Motiv ändert oder Sie die Brennweite ändern, kann sich die automatische Belichtung unmotiviert ändern, weil Ihr Motiv einen größeren oder kleineren Teil des Bildfelds ausfüllt. Selbst die gegenüber der Mehrfeldmessung weniger „intelligente“ Integralmessung ist noch für solche Fehler anfällig. Wenn Sie verschiedene Varianten mit unterschiedlichem Bildausschnitt aufnehmen, erhalten Sie immer wieder eine etwas andere Belichtung, die Sie gegebenenfalls im Raw-Konverter angleichen müssen.

Zwar können Sie die Belichtung auch schon an der Kamera korrigieren, wenn die Automatik ein suboptimales Ergebnis liefert, aber abgesehen davon, dass damit Geschwindigkeit und Bequemlichkeit zunichte werden, also die wesentlichen Vorteile der Automatik, müssten Sie wegen der schwankenden Belichtungswerte ständig nachregeln; mit einer einmaligen Korrektur wäre es nicht getan. Statt dass Ihnen die Automatik erlaubt, sich auf das Bild zu konzentrieren, kurbeln Sie am Belichtungskorrekturrad.


Besser manuell?


Damit drängt sich die Frage auf, ob nicht eine manuelle Einstellung von Zeit und Blende in solchen Fällen Vorteile hätte. Zumindest erfordert sie keine ständigen Korrekturen, nachdem Sie einmal eine optimale Einstellung gefunden haben. Nur wenn sich die Lichtverhältnisse ändern, müssen Sie die Werte anpassen.

Zudem gibt es heute Kameras, die eine viel unmittelbarere Kontrolle der Belichtung ermöglichen, nämlich die spiegellosen Systemkameras mit elektronischem Sucher. Solche Kameras können die Wirkung der aktuell eingestellten Belichtungswerte schon im elektronischen Sucherbild simulieren, und sie zeigen nicht nur das Bild selbst an, sondern auch Auswertungen wie ein Live-Histogramm (teilweise sogar als RGB-Histogramm für die drei Farbkanäle getrennt) oder Über- und Unterbelichtungswarnungen.

Damit brauchen Sie nicht einmal mehr eine Belichtungsmessung, sei es eine simple Spot- oder Integralmessung oder eine „intelligente“ Mehrfeldmessung. Sie passen einfach Blende und Verschlusszeit an, bis das Sucherbild von der Belichtung her Ihren Vorstellungen entspricht – und achten dabei auch auf Anzeigen wie das Histogramm, da der Kontrastumfang der Sucherpanels möglicherweise nicht ausreicht, die tatsächlichen Tonwertdifferenzierungen wiederzugeben.

Nun ist auch die Belichtungsvorschau der verschiedenen Kameramodelle nicht immer perfekt, und Sie müssen sich auf Eigenheiten Ihrer Kamera einstellen. Probieren Sie zunächst einmal aus, wie großzügig Sie belichten dürfen, ohne dass die Ladungsspeicher der Sensorpixel überlaufen und Clipping einsetzt – je näher Sie diesem Punkt kommen, desto mehr Licht sammeln Sie und desto besser ist die Tonwertdifferenzierung und der Rauschabstand in Ihren Bildern. Nur überschreiten dürfen Sie diesen Punkt nicht. (Aus der Notwendigkeit, sich so intensiv mit seinem Werkzeug zu beschäftigen, dass man kompetent damit umgehen kann, ergibt sich auch, dass man mit seiner vertrauten Ausrüstung oft bessere Ergebnisse erzielt als mit einer nach Datenblatt besseren Kamera, mit der man sich nicht auskennt.)

Wenn die technischen Grundbedingungen geklärt sind, können Sie loslegen und brauchen sich nur noch um die Bildgestaltung zu kümmern, denn so lange sich die Lichtverhältnisse nicht ändern, bleibt die Belichtung unabhängig vom Bildausschnitt konstant. Die manuelle Belichtungssteuerung nach dieser Methode verhilft Ihnen zu Bildern, die auch ohne Nachbearbeitung schon ziemlich genau dem Bildeindruck entsprechen, den Sie sich vorgestellt haben, und das ist mehr, als eine Belichtungsautomatik typischerweise leistet.

Und wenn sich die Lichtverhältnisse doch einmal schnell ändern? Die manuelle Belichtungssteuerung ist dann naturgemäß langsamer als eine Automatik, aber vergessen Sie nicht, dass auch eine Belichtungsautomatik nicht alle damit verbundenen Probleme lösen kann. Nehmen wir an, der Himmel wäre leicht bewölkt, und es würden sich immer mal wieder Wolken vor die Sonne schieben, wodurch sich die Lichtverhältnisse erheblich ändern. Eine Halb- oder Vollautomatik würde die Helligkeitsschwankungen ohne Zutun des Fotografen ausgleichen, aber mit einer Anpassung der Belichtung ist es ja nicht getan. Das direkte Sonnenlicht hat einen völlig anderen Charakter als das diffus durch eine Wolke gestreute Licht. Farbe, Kontrast und Textur der Motive würden anders wirken und auch die Farbtemperatur des Lichts wäre eine andere. Je nachdem, was für ein Ergebnis Sie anstreben, würden Sie auch mit einer Belichtungsautomatik nicht immer Bilder im gewünschten Look bekommen.

Einen klaren Vorteil hat die Belichtungsautomatik nur, wenn Sie einerseits schnell und flexibel auf sich verändernde Bedingungen reagieren müssen, es andererseits aber auch nicht auf eine bestimmte Bildanmutung ankommt – es genügt, wenn die Belichtung so weit stimmt, dass das Motiv zu erkennen ist. Die Reportagefotografie ist das klassische Beispiel für ein solches Anforderungsprofil.


Available Light


Was ich bisher beschrieben habe, bezieht sich auf Situationen, in denen Sie genug Licht haben, um mit der Grundempfindlichkeit der Kamera zu arbeiten. Wie sieht es aber aus, wenn Sie bei schlechten Lichtverhältnissen mit dem vorhandenen Licht auskommen müssen? In solchen Fällen setzt man normalerweise den ISO-Wert herauf, aber der im Gegensatz zum Film nicht austauschbare Sensor hat ja eigentlich nur eine Empfindlichkeit – oder zwei, falls er eine Umschaltung des Conversion Gain unterstützt. Wenn Sie an der Kamera einen höheren ISO-Wert wählen, belichtet sie knapper, und das Ergebnis ist eine Unterbelichtung.

Man könnte sich fragen, weshalb man sich dann überhaupt noch um eine Belichtungsmessung kümmern soll. Wozu eine „richtige“ Belichtung suchen, wenn doch ohnehin klar ist, dass man den Sensor unterbelichten wird? Es gibt ja, Adorno möge mir verzeihen, keine richtige Belichtung in der falschen. Dennoch ist die Wahl von Blende und Verschlusszeit dann sogar noch wichtiger als bei Aufnahmen mit der Grundempfindlichkeit. Der Grund dafür liegt darin, dass die schwachen Sensorsignale bei hohen ISO-Werten verstärkt werden, bevor sie den Analog/Digital-Wandlern zugeführt werden. Falls im Bild doch einige helle Motivteile auftauchen, erzeugt die Verstärkung so große Signale, dass sie die A/D-Wandler übersteuern. Die hellsten Lichter werden dadurch abgeschnitten, und der Dynamikumfang schrumpft um so mehr, je höher der gewählte ISO-Wert ist. Sofern Sie nicht sehr präzise belichten, laufen Sie Gefahr, die Lichterzeichnung zu verlieren, die Sie gerne im Bild bewahrt hätten.

Die Renaissance der manuellen Belichtung
Wenn das vorhandene Licht nicht für eine Belichtung bei der Grundempfindlichkeit ausreicht, muss man zwangsläufig unterbelichten – das JPEG aus der Kamera zeigt das Ergebnis (links). Eine Belichtungskorrektur um +5 EV fördert dennoch ein Bild zutage (rechts). Hier ist übrigens nicht Hamlet zu sehen, sondern der Rechtsmediziner Prof. Klaus Püschel mit dem Schädel von Klaus Störtebeker.

Nun haben aber die meisten modernen Sensoren ein so geringes Ausleserauschen, dass sie weitgehend ISO-los sind, das heißt, sie benötigen auch bei schlechten Lichtverhältnissen keine zusätzliche Verstärkung, um das Rauschen zu verringern. Sie können, statt den ISO-Wert heraufzusetzen, einfach unterbelichten und dann im Raw-Konverter per digitaler Belichtungskorrektur für eine ausgewogene Tonwertverteilung im Histogramm sorgen. Damit vermeiden Sie den Verlust an Dynamikumfang, der mit einem hohen ISO-Wert einhergeht, und so gilt dann tatsächlich, dass eine „richtige“ Belichtung keine Rolle mehr spielt.

Nachdem Sie also angesichts der schlechten Lichtverhältnisse kapituliert und sich damit abgefunden haben, mit dem wenigen Licht zu arbeiten, das vorhanden ist, erfreuen Sie sich bei der Wahl von Blende und Verschlusszeit aller Freiheiten. Natürlich macht die Lichtmenge, die während der Aufnahme gesammelt wird, für die Bildqualität noch immer einen Unterschied, und daher sollten Sie nicht ohne Not weit abblenden oder kurze Verschlusszeiten einstellen. Wählen Sie im Modus M einfach die Blende, mit der sie die nötige Schärfentiefe erhalten, und eine so kurze Belichtungszeit, dass keine Bewegungsunschärfe auftritt. Für den Rest, also die gewünschte Bildhelligkeit, sorgen Sie im Raw-Konverter.

Die Renaissance der manuellen Belichtung: Bei schlechten Lichtverhältnissen ist die manuelle Belichtung also noch einfacher und das Argument für den Modus M fast noch stärker als bei Fotos mit ausreichend Licht. Probieren Sie’s mal aus, wenn Sie Lust haben, die eingefahrenen Wege zu verlassen.

Michael J. Hußmann
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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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3 Kommentare

  1. Weshalb wird mehrfach auf SPIEGELLOSE Kameras hingewiesen? Da drängt sich doch tatsächlich der Eindruck auf, dass dem Autor des Artikels die sich nie ernsthaft geänderte Arbeitsweise der Profis unbekannt geblieben ist. Selbstverständlich ist der Inhalt richtig, die explizite Erwähnung der modernsten Systemkameras allerdings schwer irritierend …

  2. Natürlich spielt der Kameratyp (spiegellos) beim Thema (techn. korr. Belichtung) keine Rolle. Der Profi kommt mit einer DSLR selbstverständlich ebensogut zu perfekten Ergebnissen. Einzig ein in der Größe variables (sehr kleines) Spotmessfeld mancher (spiegellosen) Kameras bietet für die manuelle Belichtung einen echten(!) Mehrwert, das blieb allerdings unerwähnt. Wer es beherrscht, mit der Spotmessung die Belichtung gezielt zu setzen, und das ist für jpeg und raw selbstverständlich völlig unterschiedlich, der kommt damit mit jeder Kamera zum Ziel und ist dabei nicht auf Kamera Histogramm, EVF und „Blinkies“ angewiesen (zumal das alles nach wie vor nur auf jpegs ausgelegt ist). Allein schon die Auswirkung eines falschen Weissabgleichs auf das Kamerahistogramm macht die Unbrauchbarkeit für eine raw Belichtung deutlich.

    Es ist auch schade, das in einem Fachartikel(?) geschrieben wird, Belichtung sei im Konverter auszugleichen. Hier sollten doch die Begrifflichkeiten korrekt gewählt werden. Auch gehört ISO nicht in einen Artikel über Belichtung(smessung), denn die Belichtung wird ausschließlich durch Blende und Zeit festgelegt. Nebenbei: Eine Anpassung der Bildhelligkeit im raw Konverter, wie im Beispielbild, bringt nicht zwangsläufig immer ein besseres Ergebnis als die Aufhellung direkt in der Kamera (hoher ISO Wert). Die Algorithmen der Kamerahersteller liegen da oftmals ebenbürtig, teils sogar besser.

    Kurzum: Wissen über Belichtung und über seine Kamerafunktion machen jedenfalls unabhängig vom Kameratyp. Für diejenigen die es nicht wissen, oder zu faul sind sich dieses umfassend anzueignen, für die sind EVF und „Blinkies“ sicher eine willkommene Hilfe um es dann doch irgendwie hinzukriegen.

  3. Im Grunde ist die Sache doch klar: Ich sammle mit meiner Kamera so viel Licht ein, dass der Sensor in bildkritischen Bereichen so gerade eben nicht übersteuert wird. Natürlich setzen mir dabei gestalterische Vorstellungen wie Schärfentiefe und Bewegungsunschärfe von Fotograf und Motiv gewisse Grenzen für Blende und Belichtungszeit. Was mir leider bei aktuellen Kameras fehlt, ist ein Histogramm der Tonwertverteilung im Sensor und nicht eines der jpg-Interpretation des Sensorsignals. Wieso gibt es so etwas nicht? Ist doch sicher technisch gar kein Problem, oder?

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