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Domänenwissen: Die Versicherung gegen die KI-Halluzination

Warum tiefes Fachwissen im Zeitalter der Bildgeneratoren zur entscheidenden Schlüsselqualifikation für Kreative wird und wie Sie damit Ihre berufliche Zukunft sichern.

Es ist eine jener Anekdoten, die in der Fachwelt für eine Mischung aus Belustigung und tiefem Unbehagen sorgen: Ein Anwalt reichte 2023 bei einem US-Gericht einen mit ChatGPT angefertigten Schriftsatz ein, der gespickt war mit frei erfundenen Urteilen und Aktenzeichen. Zur selben Zeit behauptete ein KI-Zusammenfassungstool von Google, Astronauten hätten auf dem Mond mit Katzen gespielt, und dichtete Neil Armstrong gleich noch ein passendes Zitat an. Diese sogenannten Halluzinationen – von einer KI mit größter Überzeugung vorgetragene Falschinformationen – sind mehr als nur technische Kinderkrankheiten. Sie sind ein Symptom für die grundlegende Schwäche generativer Modelle: das Fehlen von echtem Verständnis und Kontext.

Während man über erfundene Gerichtsentscheide noch schmunzeln mag, gefriert Bildkreativen bei dem Gedanken an die visuellen Pendants das Blut in den Adern. Was aber, wenn Bildgeneratoren zwar formal beeindruckende, aber inhaltlich falsche oder irreführende Visualisierungen anfertigen? Wenn der nächste Geschäftsbericht plötzlich nicht-existente Produktlinien präsentiert oder die Architekturvisualisierung physikalische Gesetze ignoriert? Hier schlägt die Stunde des Domänenwissens.

Der unsichtbare Wächter: Fachwissen als Qualitätssicherung

Hinter dem sperrigen Begriff des Domänenwissens verbirgt sich nichts anderes als Ihr über Jahre erarbeitetes, tiefgreifendes Fachwissen. Es ist das Resultat unzähliger Projekte, ständigen Lernens und der intensiven Auseinandersetzung mit den Feinheiten Ihrer Profession. In der Fotografie und Bildbearbeitung bedeutet dies, die Eigenheiten verschiedener Farbräume zu kennen, die technischen Grenzen von Kamerasensoren zu verstehen oder exakt zu wissen, wie Licht und Schatten in der realen Welt interagieren.

Genau dieses Wissen fungiert als unbestechlicher Filter für die Ausgaben der KI. Wenn Midjourney eine anatomisch unmögliche Handform vorschlägt oder Stable Diffusion eine Architektur mit fehlerhafter Perspektive generiert, erkennt Ihr geschultes Auge diese Mängel sofort. Was für den Laien wie ein beeindruckendes Bild erscheint, offenbart dem Fachmann gravierende handwerkliche oder inhaltliche Fehler. Wir kenne solche Beobachtungen aus Doc Baumanns „Bildkritiken”. In Zukunft wird Ihr Domänenwissen als Kreativer und möglicherweise als Spezialist auch in anderen Gebieten zur entscheidenden Instanz der Qualitätssicherung in einem Workflow, der zunehmend von automatisierten Prozessen durchdrungen ist. Es ist die Fähigkeit, die richtigen Fragen zu stellen und die Antworten der Maschine kritisch zu bewerten.

Die paradoxe Aufwertung der Expertise

Es mag paradox klingen, doch je leistungsfähiger die generativen Modelle werden, desto unverzichtbarer wird die menschliche Expertise, die ihre Ergebnisse bewerten kann. Während Amateure und Gelegenheitsanwender von der schieren Masse an KI-generierten Inhalten überschwemmt werden, erleben wir eine Renaissance des Expertentums. Die Fähigkeit, KI-generierte Inhalte nicht nur zu prüfen, sondern sie zu kuratieren, zu verfeinern und in einen sinnvollen strategischen Kontext zu setzen, wird zur neuen Superkraft.

Aktuelle Zahlen untermauern diese Entwicklung: Eine Studie der britischen Society of Authors fand heraus, dass bereits 26 % der Illustratoren und 36 % der Übersetzer Aufträge an KI-Tools verloren haben. Diese Zahlen belegen weniger das Ende kreativer Berufe als vielmehr eine tiefgreifende Transformation. Wir erinnern uns an die Einführung von Photoshop in den 1990er-Jahren. Auch damals wurde das Ende der traditionellen Retuscheure und Grafikdesigner prophezeit. Was folgte, war keine Auslöschung, sondern eine Professionalisierung. Diejenigen, die sich anpassten und das neue Werkzeug zu meistern lernten, erlebten eine Blütezeit ihrer Profession. Diejenigen, die sich verweigerten, wurden tatsächlich verdrängt. Die Geschichte wiederholt sich, nur auf einem technologisch höheren Niveau.

Die KI als Werkzeug begreifen, nicht als Konkurrent

Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten mit einem neuen Assistenten zusammen: Er ist unglaublich schnell, unermüdlich und liefert auf Kommando Dutzende von Entwürfen. Allerdings neigt er dazu, zu fantasieren und gelegentlich kompletten Unsinn zu erzählen. Sie würden ihm niemals blind vertrauen oder ihm die alleinige Verantwortung für ein Projekt übertragen. Stattdessen würden Sie lernen, seine Stärken zu nutzen – seine Geschwindigkeit und seine Fähigkeit, unerwartete Verbindungen herzustellen – und seine Schwächen durch Ihre eigene Expertise zu kompensieren.

Genau dies ist der Schlüssel im Umgang mit KI-Werkzeugen. Erfolgreiche Kreative nutzen KI bereits heute als unermüdlichen Ideengeber, nicht als finalen Produzenten. Sie automatisieren Routineaufgaben wie das Freistellen von Objekten oder das Anfertigen von Variationen, während sie die kreative Führung und die kritische Bewertung der Ergebnisse für sich beanspruchen. Sie nutzen KI für schnelle Prototypen und Konzeptentwürfe, die sie anschließend mit ihrem Fachwissen und ihrer handwerklichen Finesse zur Marktreife bringen. Das Entwickeln dieser Fähigkeiten ist ein kontinuierlicher Prozess, der Geduld und Übung erfordert.

Das neue Anforderungsprofil für Bildgestalter

Wie sieht also die konkrete Zukunft für Bildgestalter aus? Das World Economic Forum listet Grafikdesigner unter den am schnellsten schrumpfenden Berufen. Doch hinter diesen nüchternen Zahlen verbirgt sich eine Verschiebung der Wertschöpfung, keine Auslöschung. Die Arbeit verlagert sich von der reinen Ausführung hin zur Strategie, Kuration und Veredelung.

Es entsteht ein neues Berufsbild: der KI-Kurator mit tiefem Domänenwissen. Eine Person, die sowohl die technischen Feinheiten von Bildkomposition, Farblehre und Typografie versteht, als auch die Kunst beherrscht, eine KI durch präzise Anweisungen zu steuern. Ein Experte, der bewertet, interpretiert und verfeinert, was die Maschine hervorbringt. Die Fähigkeit, Lesestile und Textgattungen zu verstehen und anzuwenden überträgt sich hier auf das Visuelle: das Verstehen von Bildsprachen, Stilen und deren Wirkung.

Denken wir an die Geschichte der Fotografie: Als die ersten Kameras aufkamen, fürchteten Porträtmaler um ihre Existenz. Was folgte, war nicht das Ende der Malerei, sondern die Geburt des Impressionismus – einer Kunstform, die sich auf das konzentrierte, was eine Kamera nicht einfangen konnte: Licht, Stimmung und subjektive Wahrnehmung. Heute erleben wir einen ähnlichen Moment. Die entscheidende Frage lautet: Welche neuen visuellen „Impressionismen“ werden aus der KI-Revolution hervorgehen?

Der Wert des Unersetzlichen

Im Zentrum all dieser Veränderungen steht eine fundamentale Wahrheit: Kreativität ist mehr als die Summe ihrer technischen Teile. Sie umfasst Empathie, kulturelles Verständnis, Intuition und die Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen – allesamt zutiefst menschliche Qualitäten, bei denen KI nach wie vor an ihre Grenzen stößt .

Hier liegt die große Chance für menschliche Kreative: in der Kontextualisierung, im Verstehen des „Warum“ hinter dem „Was“. Wenn eine KI ein Plakat für ein Musikfestival gestaltet, kann sie vielleicht ästhetische Regeln befolgen. Aber versteht sie die Subkultur, die Emotionen und die Geschichte hinter der Musik? Versteht sie, warum bestimmte visuelle Codes bei der Zielgruppe Resonanz erzeugen und andere nicht?

Die Kombination aus tiefem Domänenwissen und der Fähigkeit, KI strategisch einzusetzen, wird zur neuen Schlüsselqualifikation Es geht nicht darum, gegen die Maschinen anzutreten, sondern mit ihnen zu tanzen – und dabei die Führung zu behalten.

Wer sich allein auf erlernte technische Fertigkeiten verlässt, die morgen schon automatisiert sein könnten, wird es schwer haben. Wer jedoch sein Fachwissen kontinuierlich vertieft und es mit der intelligenten Steuerung von KI-Werkzeugen verbindet, dem öffnen sich neue Horizonte. Ihr Domänenwissen ist Ihr Anker in stürmischen Zeiten – und Ihre Eintrittskarte in eine neue Ära anspruchsvoller Kreativität.

Oder um es mit einem (nicht halluzinierten) Zitat von Pablo Picasso zu sagen: „Computer sind nutzlos. Sie können nur Antworten geben.“ Es sind nach wie vor die Menschen mit ihrem Fachwissen, die die richtigen Fragen stellen.


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Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

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