Der Chronist des bösen Augenzwinkerns: Ein Nachruf auf Martin Parr

Martin Parr, Großbritanniens visuelle Chronist, hielt der Welt seinen Spiegel vor – eine Art Zerrspiegel, um genau zu sein. Einen, in dem sich die Gesellschaft nicht nur wiedererkannte, sondern über dessen Anblick sie lauthals lachen musste – oft ohne zu merken, dass sie über sich selbst lachte. Nun ist dieser Spiegel zerbrochen. Der große britische Fotograf, Soziologe mit der Kamera und Meister der visuellen Satire ist am 6. Dezember 2025 im Alter von 73 Jahren verstorben.
Die Kamera als Skalpell der Banalität
Wer das Werk von Martin Parr verstehen will, muss seine Technik als Botschaft begreifen. Der gnadenlose Einsatz des Ringblitzes, der jede Pore, jede Schweißperle und jede aufgetragene Schicht Make-up mit klinischer Präzision ausleuchtet, war kein ästhetischer Fauxpas, sondern ein chirurgischer Eingriff. Parrs benutzte seine Kamera wie ein Skalpell, das die dünne Haut der bürgerlichen Normalität aufschnitt, um die darunterliegende Absurdität freizulegen. Seine übersteuerten, fast schmerzhaft gesättigten Farben waren nicht bloß Stilmittel, sondern die Verdeutlichung einer Welt, die im Rausch des Konsums und der schrillen Selbstinszenierung ertrinkt.
Sein Durchbruch, „The Last Resort“ aus den 1980er-Jahren, war hierfür der Prolog. Die Serie über die Arbeiterklasse im verfallenden Seebad New Brighton zeigte keine romantische Verklärung, sondern eine fast brutale Ehrlichkeit: gelangweilte Gesichter, überquellende Mülleimer und sonnenverbrannte Haut neben fettigen Pommes frites. Es war die ungeschminkte Wahrheit über das Ende einer Ära, festgehalten ohne Mitleid, aber mit einer spürbaren, fast zärtlichen Komplizenschaft. Spätere Arbeiten wie „Small World“ sezierten den globalen Massentourismus und entlarvten die Jagd nach dem perfekten Urlaubsschnappschuss als universelles, tragikomisches Ritual. Parr zeigte uns nicht, was wir sehen wollen, sondern das, was wir sind: Suchende in einer Welt voller billiger Souvenirs und flüchtiger Glücksversprechen.

Dass sein Humor, diese typisch britische Mischung aus Trockenheit und subtiler Boshaftigkeit, seine stärkste Waffe war, bewies er bis zuletzt. Wir hatten das Glück hatte, ihn noch einmal im Sommer 2024 beim Fotofestival La Gacilly-Baden zu erleben und wurden Zeuge eines bemerkenswerten Auftritts. Der Körper war sichtlich vom Krebs gezeichnet, die Bewegungen langsamer, doch der Geist war unbezwingbar, der Witz schärfer denn je. Vor seinen Arbeiten stehend, plauderte er mit entwaffnender Selbstironie über seine Art der Fotografie, streute Pointen wie beiläufige Notizen ein und dekonstruierte den Mythos des großen Künstlers mit diebischer Freude.
Es war mehr als nur ein Vortrag; es war eine Lektion in der Kunst des Hinsehens. Parr demonstrierte an sich selbst, dass Humor die eleganteste Form des Widerstands ist – gegen die Tristesse des Alltags, gegen die Prätention der Kunstwelt und letztlich auch gegen die eigene Vergänglichkeit.
Das Echo der Bilder
Was von Martin Parr bleibt, ist weit mehr als ein beeindruckendes Archiv an Fotografien und Dutzenden publizierten Büchern. Sein Vermächtnis ist eine Haltung, eine Art, die Welt zu betrachten. Er lehrte Generationen von Fotografen, dass die Wahrheit oft nicht im Erhabenen, sondern im Lächerlichen liegt und dass eine kritische Analyse der Gesellschaft nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern mit einem intelligenten Witz weitaus wirkungsvoller ist. Dabei musste er die Grenzen zwischen Kunst-, Dokumentar- und kommerzieller Fotografie nicht einreißen, sondern hat sie als das entlarvt, was sie oft sind: künstliche Barrieren in den Köpfen der Betrachter.
Seine Bilder werden bleiben. Sie werden uns weiterhin in Galerien und Büchern anstarren, uns mit ihrer grellen Farbigkeit provozieren und uns mit ihren absurden Details zum Schmunzeln bringen. Sie sind ein unbestechliches Protokoll unserer Zeit, eine visuelle Enzyklopädie menschlicher Schwächen und Sehnsüchte. Martin Parr selbst ist nun verstummt, doch das laute Lachen, das seine Bilder in der Welt hinterlassen, wird noch lange nachhallen.







