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KI-Reasoning trifft Bildgestaltung: Werkzeug, Partner oder Konkurrent im Kreativprozess?

Reasoning

OpenAI hat mit o3 und o4-mini neue KI-Modelle vorgestellt, die vor allem durch verbesserte Fähigkeiten im logischen Schlussfolgern, dem sogenannten „Reasoning“, überzeugen sollen. Auch wenn diese neue Funktionalität vor allem bei Text-Anwendungen interessant ist, stellt sich für Fotografen und Bildbearbeiter die konkrete Frage: Ändert das etwas an unserem Arbeitsalltag und die Essenz unseres kreativen Schaffens? Geht es nur um effizientere Text-Werkzeuge oder berührt diese Entwicklung auch die Grundlagen dessen, wie wir Bilder denken, gestalten und wahrnehmen? Die neuen Modelle, die auf das gesamte Arsenal von ChatGPT zugreifen können – inklusive Web-Suche, Bildgenereirung und Videoverarbeitung –, versprechen zumindest eine tiefere Integration von Analyse und Aktion, die weit über einfache Filter hinausgeht und den Kern des künstlerischen Prozesses tangieren könnte.

Was „Reasoning“ für die visuelle Praxis bedeuten könnte

Der Begriff „Reasoning“ im KI-Kontext beschreibt die Fähigkeit, Informationen zu verknüpfen, logische Ableitungen zu treffen und mehrstufige Probleme zu lösen. Bisherige KI-Modelle brillierten oft im Erkennen von Mustern und der Generierung von Inhalten auf Basis dieser Muster. Der nächste Schritt, den OpenAI nun forciert, zielt auf ein tiefergehendes „Verständnis“ ab. Für die visuelle Domäne eröffnet dies faszinierende Perspektiven: Man stelle sich eine KI vor, die nicht nur Pixel analysiert, sondern den Kontext eines Bildes, die Beziehungen zwischen Objekten oder die implizite Stimmung erfasst und darauf basierend fundierte Vorschläge für die Nachbearbeitung macht.

Reasoning

Konkret könnte dies bedeuten:

Intelligentere Bildanalyse: Eine KI wie o3 könnte komplexe Bildkompositionen bewerten und nachvollziehbare Verbesserungsvorschläge liefern, die über generische Regeln hinausgehen und den spezifischen Bildinhalt berücksichtigen.

Stiltransfer und -analyse:Die Fähigkeit, den Stil eines Referenzbildes tiefgehend zu analysieren und die notwendigen Schritte zur Adaption auf ein anderes Bild nicht nur zu beschreiben, sondern vielleicht sogar teilautomatisiert anzuwenden (etwa durch Generierung von Einstellungsebenen oder Skripten).

Komplexe Retuscheplanung: Bei aufwendigen Retuschen könnte die KI helfen, eine sinnvolle Abfolge von Arbeitsschritten zu planen, potenzielle Probleme zu antizipieren und Werkzeugkombinationen vorzuschlagen.

Verbesserte Bildorganisation: Über die reine Objekterkennung hinaus könnten KI-Systeme mit Reasoning-Fähigkeiten helfen, große Bildarchive nach konzeptionellen Kriterien, narrativen Zusammenhängen oder ästhetischen Qualitäten zu sortieren und zu verschlagworten.

Prompt-Optimierung: Bei der Arbeit mit generativen Modellen könnte eine KI mit Schlussfolgerungsfähigkeiten helfen, effektivere Prompts zu formulieren oder bestehende Prompts zu analysieren und zu verfeinern, um präzisere Ergebnisse zu erzielen.

Werkzeuge wie die KI-Funktionen in Adobe Photoshop, Luminar Neo oder spezialisierte generative Plattformen (die oft auf GANs basieren) deuten bereits an, wohin die Reise geht. Sie automatisieren Arbeitsschritte wie Freistellung, Himmelsaustausch oder Rauschreduzierung. Die neuen Modelle versprechen jedoch eine Integration dieser Fähigkeiten auf einer Ebene, die näher an einer kognitiven Assistenz als an einem reinen Automatisierungswerkzeug liegt.

Der künstlerische Prozess im Wandel: Algorithmus versus Intuition

Diese technologischen Fortschritte treffen auf einen künstlerischen Prozess, der traditionell als organisch, intuitiv und oft nicht vollständig planbar verstanden wird. Es geht um das Erfassen einer Situation, das Ringen mit dem Material, um einen individuellen Ausdruck zu finden – ein Prozess, der oft von „tacitem Wissen“, also implizitem Handlungswissen, geprägt ist und sich nicht vollständig in explizite Regeln fassen lässt. Dieser Prozess beinhaltet Versuch und Irrtum, Improvisation und eine tiefe, manchmal auch anstrengende Auseinandersetzung mit dem Gegenstand.

KI greift hier auf ambivalente Weise ein. Einerseits kann sie als Katalysator dienen: Sie beschleunigt repetitive Aufgaben, liefert Inspiration durch unerwartete Variationen (ähnlich wie generative Kunstplattformen wie Artbreeder) und ermöglicht vielleicht auch jenen den Zugang zu komplexer Bildgestaltung, denen tiefgreifende manuelle Fertigkeiten fehlen.

Andererseits fordert KI diesen traditionellen Prozess heraus. Wenn Algorithmen auf Basis riesiger, oft intransparenter Datensätze operieren und logisch-abstrakt „schließen“, stellt sich die Frage nach Originalität und Autorschaft neu. Besteht die Gefahr, dass die Auseinandersetzung mit dem Material, das Entwickeln einer eigenen Handschrift, durch die vermeintliche Leichtigkeit der KI-Generierung oder -Optimierung untergraben wird? Die Fähigkeit zur kritischen Kuration, zur präzisen Formulierung von Anweisungen (Prompting) und zum konzeptionellen Denken gewinnt an Bedeutung, während rein technische Ausführungskompetenzen möglicherweise in den Hintergrund treten.

Reasoning

Zwischen Effizienzgewinn und Sinnsuche: Die Rolle des Kreativen neu definieren

Viele professionelle Bildgestalter sehen KI als wertvolle Ergänzung ihres Werkzeugkastens, die Effizienz steigert und neue Experimente ermöglicht. Die Automatisierung zeitraubender Routineaufgaben, wie sie etwa durch KI-gestützte Sortier- und Verschlagwortungsfunktionen oder intelligente Auswahlwerkzeuge geboten wird, schafft Freiräume für konzeptionelle Arbeit.

Gleichzeitig äußern Kritiker Bedenken hinsichtlich einer möglichen Nivellierung von Stilen, der Authentizität KI-generierter oder stark KI-bearbeiteter Bilder und der Gefahr einer Entfremdung vom eigentlichen Schaffensakt. Das Problem der „Halluzinationen“ – plausibel wirkender, aber faktisch falscher oder unpassender KI-Aussagen – bleibt auch bei Reasoning-Modellen eine Herausforderung, die gerade im visuellen Bereich, wo Präzision zählt, kritische Prüfung erfordert.

Schlussfolgerung

Letztlich erfordert die Integration von KI in einen kreativen Workflow mehr als technisches Verständnis. Sie verlangt eine bewusste Entscheidung darüber, welche Aspekte des kreativen Prozesses man an die Maschine delegieren möchte und welche für die eigene künstlerische Identität und Intention unverzichtbar sind. Es geht darum, eine Balance zu finden, KI als Partner zu verstehen, dessen Vorschläge und Ergebnisse kritisch hinterfragt und gezielt eingesetzt werden müssen. Die neuen Modelle wie o3 und o4-mini sind weitere Bausteine in dieser Entwicklung. Ob sie sich als transformative Werkzeuge für die visuelle Praxis erweisen, wird sich erst im konkreten Einsatz zeigen. Die Aufgabe der Kreativprofis wird es sein, dieses Potenzial auszuloten, die Werkzeuge zu meistern und sie so zu nutzen, dass sie die menschliche Kreativität erweitern, statt sie zu ersetzen. Es steckt also viel Potenzial in den neuen Möglichkeiten, wenn man sie zu nutzen lernt.

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Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

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