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AImagine: Fotografie-Referenz als Reibungsfläche für generative KI

Die Fotografie, so scheint es, bleibt der zentrale Gravitationspunkt im expandierenden Universum der generativen Bild-KI. Ob als schier unerschöpflicher Datensatz, ästhetischer Maßstab oder konzeptueller Widerpart – die Beziehung ist komplex und produktiv. Michel Poivert, einer der Kuratoren der Brüsseler Ausstellung „AImagine“, bringt es auf den Punkt: Fotografen mögen zwar verunsichert sein, doch Angst ist nicht die dominante Reaktion. Vielmehr eröffnet sich ein Feld für visuelle Praktiker, die latenten Räume algorithmischer Bildfindung zu explorieren und zu dirigieren, auch ohne unmittelbar zur Kamera zu greifen. Die Schau „AImagine – Photography and generative images“ im Hangar Art Center (noch bis 15. Juni 2025) versammelt 18 künstlerische Positionen, die weit über die oft zitierte „Deepfake“-Folklore hinausgehen und tief in die materiellen, ästhetischen und konzeptuellen Verflechtungen von Fotografie und KI eintauchen. Für alle, die sich intensiv mit den bildnerischen Möglichkeiten und Fallstricken aktueller KI-Modelle auseinandersetzen, bietet die Ausstellung eine anregende Dichte an anspruchsvollen Auseinandersetzungen.

Fotografische Wahrheit im algorithmischen Spiegel

Das Kuratorenteam um Michel Poivert und das Hangar Art Center hat eine Ausstellung konzipiert, die das Spannungsverhältnis zwischen fotografischer Repräsentation und maschinell geformten Bildern auslotet. Im Zentrum steht die Frage, wie sowohl aufgenommene als auch algorithmisch generierte Visualisierungen unsere Beziehung zur Realität, zur Erinnerung und zur Spekulation prägen und verschieben. Die Bandbreite der gezeigten Arbeiten spiegelt die Heterogenität zeitgenössischer Bildpraktiken wider, von quasi-dokumentarischen Ansätzen bis zu rein KI-getriebenen Imaginationen.

Die althergebrachte Vorstellung der Fotografie als Garant für Zeugenschaft wird dabei konsequent dekonstruiert. KI-generierte Bilder, oft hyperrealistisch und doch spekulativ, fordern unsere Wahrnehmung heraus. Es geht weniger um perfekte Imitation als um die Erkundung des technologischen Potenzials geht, die Welt neu zu imaginieren. Es ist eine Einladung zur kritischen Reflexion über das Medium Bild an sich, über seine Produktionsbedingungen und seine Rezeption im Zeitalter lernender Algorithmen.

Wenn Algorithmen Geschichte(n) rekonfigurieren

Ein signifikanter Teil der Ausstellung widmet sich der Art und Weise, wie Künstler KI nutzen, um historische Narrative zu befragen, alternative Vergangenheiten zu entwerfen oder die Funktionsweise von Geschichtsschreibung selbst zu thematisieren. Das Duo Brodbeck & de Barbuat etwa nutzte für „Une Histoire parallèle“ (2022-2023) rund 250 ikonische Fotografien als Prompts für eine frühe Midjourney-Version. Die Resultate ähneln den Vorlagen oft frappierend, doch die bewusst beibehaltenen Abweichungen und Artefakte legen nicht selten inhärente Biases des Modells oder soziale Stereotypen offen. Ein Beispiel ist die Reinterpretation von Annie Leibovitz‘ Lennon/Ono-Porträt, bei dem die Rollen vertauscht sind – ein subtiler Hinweis auf die normativen Tendenzen im Datensatz. Diese Arbeiten aktivieren unser kollektives Bildgedächtnis und lenken den Blick auf die Spuren des algorithmischen Werkzeugs.

Philippe Braquenier wählte einen konzeptuell anspruchsvollen Ansatz: Er ließ eine KI die Textbeschreibungen von Alfredo Jaars Installation „Real Pictures“ (1995) visualisieren. Jaars Arbeit über den Völkermord in Ruanda zeigte bewusst keine Bilder, sondern nur deren Beschreibungen in Boxen. Braqueniers KI-Bilder, basierend auf diesen Texten, werfen fundamentale Fragen zur Verlässlichkeit visueller Kommunikation im KI-Zeitalter auf und spiegeln Jaars ursprüngliche Sorge vor der Entwertung des Bildes durch Überflutung.

Der Fotojournalist Michael Christopher Brown wiederum griff für „90 Miles“ auf KI zurück, um eine Geschichte zu bearbeiten, die er über 25 Jahre aus politischen und Sicherheitsgründen nicht klassisch fotografieren konnte: die gefährliche Flucht kubanischer Migranten nach Florida. Basierend auf gesammelten Daten und Zeugenaussagen ließ er Szenen generieren, die historische Ereignisse von Castros Machtübernahme bis heute umspannen – ein bemerkenswerter Versuch, journalistische Inhalte unter schwierigen Bedingungen visuell umzusetzen, wobei die rohen, unretuschierten Ergebnisse die Künstlichkeit des Prozesses nicht verleugnen.

Bruce Eesly spielt in „New Farmer“ mit der Ästhetik historischer Dokumentarfotografie. Seine Bilder scheinen den Erfolg der Grünen Revolution in den 1960ern zu illustrieren, sind jedoch KI-generiert und münden in einer fiktiven, absurden Steigerung: Statt Monokulturen wächst Gemüse von surrealer Größe. Ein Brokkoli, der Farmgebäude überragt, wird zum humorvollen Kommentar auf Fortschrittsnarrative und unser extraktivistisches Verhältnis zur Natur, wobei die spezifische Ästhetik der KI zur Pointe beiträgt.

Die Ästhetik des Hybriden und Artifiziellen

Andere Positionen in „AImagine“ konzentrieren sich stärker auf die Erforschung der spezifischen Ästhetiken, die aus der Verschränkung von fotografischen Techniken und KI-Prozessen entstehen. Jordan Beal etwa kombiniert KI-Generierung mit Polaroid-Fotografie. Indem er den Bildschirm abfotografiert, während das KI-Bild noch im Fluss, noch unscharf ist, formt er paradox anmutende Landschaften Martiniques. Diese oszillieren zwischen Traum und Realität und kritisieren subtil statische, koloniale Bildtraditionen. Die Fusion von KI mit dem haptisch-authentischen Polaroid verwischt bewusst die Grenzen.

Mathieu Bernard-Reymond transformiert die Lektüre von Texten des Schweizer Autors Charles-Ferdinand Ramuz in visuelle Realitäten. Mentale Bilder, angeregt durch die Texte, werden mit eigenen Fotografien der Schweizer Alpen vermischt und von einer KI interpretiert. Die dabei entstehenden „poetischen Fehler“ der Algorithmen werden nicht als Makel, sondern als integraler Bestandteil des bildnerischen Prozesses akzeptiert.

Delphine Diallo, die KI lieber als „Ahnenintelligenz“ („ancestral intelligence“) bezeichnet, verknüpft ihre analoge Fotografie mit KI-generierten Bildern. Inspiriert von Reisen in Afrika und dem Erbe der kuschitischen Zivilisation, nutzt sie KI als Werkzeug zur kulturellen Re-Imagination und zur Dekolonisierung des Blicks – ein Versuch, Technologie für postkoloniale Narrative fruchtbar zu machen.

Robin Lopvets „New New York“ schließlich ist ein Fest der absurden Kollision. Reale Stadtfotografie trifft auf KI-generierte Anomalien: goldene Pommes frites in U-Bahn-Größe, eine gigantische Karotte inmitten eines Gruppenfotos. Lopvet zelebriert die spielerische, oft surreale Logik der KI und reflektiert damit auch die sich wandelnde Rolle des Bildautors hin zum Kurator oder Kollaborateur der Maschine.

„AImagine“ ist somit weit mehr als eine Leistungsschau aktueller KI-Kunst. Die Ausstellung liefert einen differenzierten Beitrag zur laufenden Debatte über Autorschaft, Authentizität, Repräsentation und die Zukunft visueller Medien. Für professionelle Bildschaffende und Kenner der KI-Szene bietet der Besuch in Brüssel wertvolle Einblicke in avancierte künstlerische Strategien im Umgang mit einer Technologie, die unsere visuelle Kultur nachhaltig prägt. Ein umfangreicher Katalog begleitet die Schau.

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Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

2 Kommentare

  1. „Bruce Eesly spielt in „New Farmer“ mit der Ästhetik historischer Dokumentarfotografie. Seine Bilder scheinen den Erfolg der Grünen Revolution in den 1960ern zu illustrieren, sind jedoch KI-generiert und münden in einer fiktiven, absurden Steigerung: Statt Monokulturen wächst Gemüse von surrealer Größe. Ein Brokkoli, der Farmgebäude überragt, wird zum humorvollen Kommentar auf Fortschrittsnarrative und unser extraktivistisches Verhältnis zur Natur, wobei die spezifische Ästhetik der KI zur Pointe beiträgt.“

    Dafür gibt es ein historisches Vorbild, über das wir in DOCMA 48 (September 2012) berichtet hatten. Anfang des 20. Jahrhunderts musste man im Mittleren Westen der USA noch mit den Mitteln der Montage arbeiten: „In der idealen Welt der Angeberpostkarten wuchsen den Farmern ihre Maiskolben über den Kopf, und die Wagen wurden mit zentnerschweren Kürbissen und Kartoffeln beladen, bis die Räder unter der Last brachen. Jede Erdbeere füllte eine Kiste, und ein einzelner Melonenschnitz machte die ganze Kinderschar satt; eine ausgehöhlte, mit Öffnungen für Fenster und Türen versehene Wassermelone beherbergte eine Familie. Manchmal übertrieb es die Natur; dann überwand das wuchernde Gemüse die Umzäunung und hob gar das Bauernhaus aus seinem Fundament.“

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