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Krumme Perspektiven

In der gerade erschienenen DOCMA-Ausgabe 92 finden Sie einen ausführlichen Beitrag zu den Problemen extremer Perspektive. Denn unter bestimmten Bedingungen geraten korrekte perspektivische Konstruktion und Wahrnehmung in Widerspruch. Dank eines hilfreichen Leser-Hinweises hat Doc Baumann nun noch eine passende Ergänzung dazu bei dem Grafiker M.C. Escher gefunden.

Krumme Perspektiven
Nach den Regeln perspektivischer Darstellung müssten Grundlinie und Dach dieser Halle parallel verlaufen. Aber das ist nicht das, was wir bei kurzem Betrachtungsabstand sehen. Die gebogenen Linien eines Panoramafotos kommen der Wahrnehmung weit näher – führen aber nicht zu einer eindeutigen Abbildung. / Foto: Doc Baumann

Stellen Sie sich vor, Sie sollen ein sehr breites Gebäude zeichnen, vor dem Sie frontal in einem Abstand von wenigen Metern stehen. Nehmen wir als Beispiel die oben abgebildete Fabrikhalle: Sie ist 220 Meter breit, völlig gerade, und hat überall dieselbe Höhe. Nach den seit der Renaissance geltenden Regeln muss die Grundlinie eine zum Papierrand parallele Linie sein, und die obere Begrenzung des Gebäudes ebenso – schließlich weist es ja über seine ganze Länge dieselbe Höhe auf.

Das Problem dabei: Sie können die komplette Breite der Halle von Ihrem Standpunkt aus gar nicht sehen, wenn Sie geradeaus blicken; da erkennen Sie nur einen Teil des Gebäudes. Natürlich können Sie nach rechts und links zur Seite schauen. Aber dann erscheint das hintere Ende nicht mehr genauso hoch wie der direkt vor Ihnen aufragende Teil. Da es deutlich weiter von Ihnen entfernt ist, laufen die Grundlinie und das Dach aufeinander zu – die erwarteten Auswirkungen der Perspektive. Irgendetwas ist da also falsch: entweder die Perspektivekonstruktion oder Ihre Wahrnehmung.

Krumme Perspektiven
Schaut man streng geradeaus, so kann man von der Fabrikhalle (hier bei etwas größerem Betrachtungsabstand) nur diesen Bereich erkennen. / Foto: Doc Baumann

 

Krumme Perspektiven bei Escher

In meinem letzten Blog-Beitrag hatte ich Ihnen meinen – angeblich unmöglichen – realen Nachbau einer „endlosen Treppe“ vorgestellt, wie man sie vor allem aus einer Lithographie des holländischen Grafikers M.C. Escher kennt.

Zu diesem Beitrag erreichte mich eine Mail unseres Lesers Ludwig Wiese, der zum diesjährigen DOCMA Award ein Bild mit ähnlicher Thematik eingereicht hatte und mich freundlicherweise darauf hinwies, dass die Konstruktion dieses „unmöglichen Objekts“ in einem Buch über diesen Künstler ausführlich beschrieben wird. Der Buchtitel „Der Zauberspiegel des Maurits Cornelis Escher“ von Bruno Ernst war mir zwar vertraut – ich hatte es mir aber nie angeschaut, weil ich einen zu simplen Inhalt erwartet hatte. Das trifft aber keineswegs zu. Das empfehlenswerte Buch ist bereits 1978 erschienen, wird nach 40 Jahren erstaunlicherweise aber immer noch – vom Taschen Verlag – angeboten. Sie finden dort die Konstruktionsprinzipien zu vielen von Eschers Grafiken genau analysiert.

Nach dem Hinweis unseres Lesers besorgte ich mir also diesen Band. Und stellte beim Durchblättern fest, dass der Autor – in Zusammenarbeit mit Escher – darin auch das Problem der „krummen Perspektive“ behandelt hat.

Sein Beispiel ist ein anderes als meines. Er fordert Sie auf sich vorzustellen, Sie lägen auf einer Wiese zwischen zwei Masten auf dem Rücken, schauten nach oben und sähen dort die zwischen den Masten gespannten Leitungsdrähte. Bei dieser Blickrichtung verlaufen sie parallel. Blicken Sie dagegen in Richtung eines der beiden Masten, laufen Sie V-förmig zusammen. Daraus könnte man schließen: Da man nicht gleichzeitig zu beiden Masten schauen kann, sollte eine Darstellung dieser Szene zwei Vs wiedergeben, die sich zu einer langgestreckten Raute verbinden. Dort, wo Sie liegen, ist diese Raute am breitesten.

Krumme Perspektiven
Das Beispiel von Escher und Bruno setzt an Leitungsdrähten an, die parallel verlaufen, aber dennoch zum Horizont hin zusammenzulaufen scheinen. / Foto: Doc Baumann

Das aber passt nicht zum Blick direkt nach oben mit parallelen Drähten. Außerdem lehrt die Erfahrung, dass es den „Knick“ an den beiden mittleren Ecken der Raute in der Wahrnehmung natürlich nicht gibt.

Die Lösung von Escher und Bruno: In normalen Situationen schaut man sich nicht drei Einzelansichten an (vorn – oben – hinten), sondern man lässt den Blick schweifen. Es gibt daher nicht zwei oder drei Einzelbilder, die aneinandergepappt werden, sondern einen kontinuierlichen Übergang; also auch keine Knicke, sondern einen scheinbar gebogenen Verlauf der Drähte. Falls Sie es ganz genau wissen möchten: Brunos geometrische Rekonstruktion der Szene zeigt, dass diese Kurven weder zwei sich schneidende Halbkreise sind, noch Ellipsensegmente, sondern Sinusoide.

Zum selben Ergebnis war ich experimentell gelangt: Um die Halle angemessen (also der Wahrnehmung entsprechend) abzubilden, müssten – im Prinzip – unendlich viele Einzelaufnahmen, die jeweils in einem leicht versetzten Drehwinkel aufgenommen wurden, montiert werden. Zum Glück muss man das heute nicht mehr wirklich so machen, sondern man kann die Panorama-Funktion der Kamera einschalten und einen langen Schwenk aufnehmen. (Obwohl ich, – das als Einschränkung –, dazu zahlreiche Versuche benötigte, weil die Kamera-„Intelligenz“ mit den identischen Fensterstrukturen der Halle nicht zurechtkam und immer wieder abbrach).

Escher hat aus dieser Erkenntnis ein Verfahren zur Konstruktion gebogener Perspektive entwickelt und auch in Bildern praktisch umgesetzt („Oben und unten“, 1947)

 

Krumme Perspektive und Fotografie

Ausführlich finden Sie das alles in der neuen DOCMA 92 ab Seite 102 beschrieben. Ich gehe dort zudem auf entsprechende Probleme bei Innenräumen ein (etwa Aufnahmen des Pantheons in Rom, auch in Vergleich mit alten Kupferstichen der Szene von Piranesi). In einem Tutorial beantworte ich Fragen zur Perspektive von Photoshops entsprechender Transformation, unser Leser Hans Döring zeigt überraschende Ergebnisse von „Entzerrungen“, und mein Kollege Michael J. Hußmann erläutert ausführlich, welche Folgen das in der Weitwinkelfotografie hat und welch wichtige Rolle der Betrachtungsabstand spielt.

Übrigens ist die hier vorgestellte gebogene Perspektive durchaus nicht „richtiger“ als jene, die sich an klassischen Konstruktionsregeln orientiert. Zwar entspricht sie einigermaßen der Wahrnehmung – aber sie ist keineswegs eindeutig. Denn wenn man das eingangs gezeigte Gebäude nicht kennt, spricht nichts dagegen, das Foto als zwei in rechtem Winkel zueinander stehende Flügel zu interpretieren, die nicht mit einer scharfen Ecke, sondern mit einem gerundeten Segment miteinander verbunden sind.

 

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Doc Baumann

Doc Baumann befasst sich vor allem mit Montagen (und ihrer Kritik) sowie mit der Entlarvung von Bildfälschungen, außerdem mit digitalen grafischen und malerischen Arbeitstechniken. Der in den Medien immer wieder als „Photoshop-Papst“ Titulierte widmet sich seit 1984 der digitalen Bildbearbeitung und schreibt seit 1988 darüber.

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5 Kommentare

  1. Ich empfinde die gebogene Perspektive als unnatürlich. Wenn ich ein Bild betrachte, habe ich immer im Hinterkopf, dass es aus einem feststehenden Blick resultiert. Den schweifenden Blick ordne ich automatisch Videoaufnahmen zu.
    Ein Bild ist sowieso schon damit überfordert, den Raum in die Fläche zu transformieren. Die durch den schweifenden Blick zusätzlichen Daten überfrachten die Darstellung in einem Bild.
    Wenn die gekrümmte Perspektive allgemein verbreitet wäre, bräuchte ich als Betrachter eine Bedienungsanleitung. Wie im Beitrag erläutert, ist die Darstellung nicht eindeutig. Man kann sich bei dem Beispiel ein gerades Gebäude aber auch eines mit der Grundfläche eines Bumerangs vorstellen.
    Aber so ganz konsequent ist mein Standpunkt, für ein Bild nur einen Blick zuzulassen, auch nicht. Schließlich gefällt mir das Spiel mit der Bewegungsunschärfe, die sich aus ähnlichen Effekten ergibt.
    Oder wenn Künstler in einem Bild verschiedene Szenen darstellen, wie im Beitrag „DOCMA Award: Bilder mit Geschichten“ vom 24.01.2017 mit dem Kupferstich „Ovids Metamorphosen“ gezeigt.

    1. Lieber Herr Wiese, natürlich haben Sie recht – die Darstellung ist ungewohnt, nicht eindeutig und verwirrend. Aber das mit dem „schweifenden Blick“ finden Sie im Prinzip doch bereits bei vielen Weitwinkelaufnahmen. Vom jeweiligen Kamerastandort aus ist das, was von einer „weiten“ Szene mit kurzer Brennweite abgebildet wird, mit „feststehendem Blick“ gar nicht zu sehen. Dasselbe Problem haben wir mit Innenraumaufnahmen; im Heft zeige ich an Beispielen den Pantheon in Rom, was bei solchen Aufnahmen herauskommt – da waren Piranesis Kupferstiche besser und übersichtlicher. Das Thema und die Frage ist ja, wie geht die klassische Perspektivekonstruktion mit so etwas um? Wenn ich trotz geringer Distanz zum Objekt ein breites Gebäude abbilden will, gelangt sie an ihre Grenzen und ist dann ebenso „falsch“ wie die gekrümmte Perspektive. Alles sind nur Näherungen – die unterschiedlichen Anforderungen lassen sich unter solch extremen Bedingungen nicht unter einen Hut kriegen. Das macht im Heft Michael J. Hußmann gut nachvollziehbar anhand der Kameraoptik klar. Viele Grüße, Doc Baumann

    2. Nachtrag: Mir ist gerade noch eine Gedanke gekommen, der die klassische Perspektivekonstruktion zum Teil rettet: Wenn ich das komplette, rund 220 m lange Gebäude zeichnen würde, vor dem ich in geringem Abstand stehe, würde Folgendes passieren: Wenn die Halle auf meiner Papierrolle, auf der ich zeichne, 50 cm hoch ist, wäre die Zeichnung etwa 9 Meter lang. Das ist schon eine ziemliche Strecke; wenn ich nun dicht vor der fertigen, an der Wand hängenden Zeichnung stehe und nach rechts oder links schaue, dann unterliegt ja auch die Zeichnung selbst der Perspektive. Die dargestellten Enden der Halle sind also viel weiter von mir entfernt als der direkt vor mir aufragende Teil, also visuell deutlich kleiner. Allerdings war die Aufnahmeentfernung bei dem „Bumerang“-Gebäude etwa 20 Meter, und wenn die alte Perspektive-Regel gilt: Entfernung zum dargestellten Objekt = Betrachtungsentfernung vom Bild, das es wiedergibt, dann haut das nicht wirklich hin, denn aus 20 Metern Entfernung sehe ich die 9 Meter breite Zeichnung (oder den entsprechenden Fotoausdruck) mehr oder weniger auf einen Blick und ohne merkliche perspektivische Verkürzung. Es bleibt also vertrackt! Viele Grüße, DocB

      1. Danke für den Hinweis auf den sehr guten Artikel von Herrn Hußmann in der neuen DOCMA. Wenn ich seine Ausführungen richtig verstanden habe, liefert er damit auch eine Lösung zu dem von Ihnen im letzten Kommentar geschilderten Problem.
        Der korrekte Betrachtungsabstand zur Zeichnung müsste sich aus der Entfernung zum realen Gebäude multipliziert mit dem Größenverhältnis von Abbildung zur Halle ergeben:
        Betrachtungsabstand zur Zeichnung = 20 Meter x 9 Meter / 220 Meter = 0,82 Meter
        Wenn der Betrachter 0,82 Meter vor der Zeichnung steht, kann er die Enden der Halle nicht mit einem Blick erkennen. Bei korrekten Betrachtungsabstand sind die Effekte der Perspektive beim realen Gebäude und der Zeichnung also gleich.

  2. „Denn wenn man das eingangs gezeigte Gebäude nicht kennt, spricht nichts dagegen, das Foto als zwei in rechtem Winkel zueinander stehende Flügel zu interpretieren, die nicht mit einer scharfen Ecke, sondern mit einem gerundeten Segment miteinander verbunden sind.“ ––– genauso ging es mir nämlich zunächst, bis ich das zweite bid sah und langsam (!) erkannte, dass das oben ein Panoramabild ist 😀

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