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Philip Montgomery in Hamburg: Amerikas zerrissene Seele in Schwarzweiß

Wer in diesen Tagen das PHOXXI, das temporäre Haus der Photographie der Deichtorhallen Hamburg, betsucht, wird Zeuge einer fotografischen Bestandsaufnahme von seltener Wucht. Mit „American Cycles“ präsentiert die Institution die erste große Einzelausstellung des mexikanisch-amerikanischen Fotografen Philip Montgomery. Auf den ersten Blick wirkt die Schau mit ihren rund 110 Werken fast wie eine Rückkehr zur klassischen Schwarzweiß-Reportage, doch dieser Eindruck täuscht. Montgomerys Arbeiten sind weit mehr als bloße Dokumente; sie sind seismografische Aufzeichnungen der amerikanischen Gesellschaft im letzten Jahrzehnt, verdichtet zu einer neuen, düster-schönen Ikonografie, die sich in das visuelle Gedächtnis einbrennt.

Die Ästhetik des Dringlichen

Was Montgomerys Bildsprache so einzigartig macht, ist die spürbare Spannung zwischen der Zeitlosigkeit seiner Ästhetik und der brennenden Aktualität der Sujets. Ob er die Proteste nach der Ermordung von George Floyd in Minneapolis dokumentiert, die Folgen des Hurrikans Irma in Miami festhält oder die Chatman-Familie in Ferguson porträtiert – seine Bilder verweigern sich allein durch die Themensetzung der reinen Neutralität. Montgomery arbeitet oft mit entfesseltem Blitzlicht, das die Szenen aus der Dunkelheit reißt, harte Kontraste schafft und den Motiven eine fast surreale Schönheit verleiht, die an Weegees Arbeiten aus der Mitte des letzten Jahrhunderts erinnern. Diese Technik, gepaart mit dynamischen, oft an Filmstills erinnernden Kompositionen, lässt sein Werk bewusst in einen Dialog mit den großen Meistern der amerikanischen Fotografiegeschichte treten. Man spürt das Erbe von Walker Evans, Dorothea Lange und Robert Frank, doch Montgomerys Blick ist unverkennbar im Hier und Jetzt verankert. Er sucht nicht die Distanz des Beobachters, sondern die unmittelbare Konfrontation und offenbart dabei Realitäten, die unter der Oberfläche des Alltäglichen brodeln.

Kuratorische Weitsicht statt Chronologie

Die Kuratorin Nadine Isabelle Henrich hat sich klugerweise gegen eine simple chronologische Abfolge entschieden. Stattdessen gliedert sie die Ausstellung in thematische Cluster, die den Betrachter zu assoziativen Querverbindungen einladen. Die Szenografie der Ausstellung unterstreicht diesen Ansatz durch ruinenartige Strukturen im Zentrum des Raumes. Sie sollen die brüchige amerikanische Demokratie symbolisieren, wobei einzelne Fotografien in die Fassaden eingelassen oder im Inneren verborgen sind. Ein anderer Bereich, der politischen Netzwerken und sozialen Bewegungen gewidmet ist, wird in einer Art „Control Room“-Atmosphäre präsentiert. Die Inszenierung zeigt einmal mehr, dass ein visuell zugängliches Konzept nicht auf intellektuellen Tiefgang verzichten muss. Im Gegenteil: Die kuratorische Ordnung ermöglicht es, die komplexen Zusammenhänge zwischen Klimawandel, der Opioid-Epidemie, politischer Polarisierung und dem Aufkeimen neuer Bürgerbewegungen als Teile einer großen, zusammenhängenden Erzählung zu begreifen.

Der unverzichtbare Kontext

So stark die visuelle Kraft der einzelnen Bilder auch sein mag, ihre volle narrative Tiefe erschließen sie erst im Zusammenspiel mit dem begleitenden Kontext. Wer hier nur an den Oberflächen der grandiosen Kompositionen verweilt, verpasst die eigentlichen Geschichten. Unerlässlich für den Ausstellungsbesuch ist daher das an der Kasse kostenlos erhältliche Textheft, in dem sich Erklärungen und damit die oft die Hintergrundgeschichten zu den ausgestellten Motiven finden. Ein fast physischer Hinweis auf die Notwendigkeit, genauer hinzusehen, sind die winzigen Bildnummern zum Textheft, die so weit unten an den Wänden platziert sind, dass man sie ohne bewusste Anstrengung leicht übersieht – ein Detail, das man als subtilen Kommentar zur oft übersehenen Komplexität hinter den Schlagzeilen lesen kann.

Ein zusätzliches Highlight ist der per QR-Code abrufbare (bisher nur englischsprachige) Audiokommentar, für den kein Geringerer als der preisgekrönte vietnamesisch-US-amerikanische Schriftsteller Ocean Vuong persönliche Texte zu einzelnen Arbeiten verfasst und eingesprochen hat. Seine lyrische Perspektive fügt den Bildern eine weitere, zutiefst menschliche Ebene hinzu.

Fazit

„American Cycles“ ist ein eindringliches, vielschichtiges Porträt einer Nation im permanenten Ausnahmezustand. Philip Montgomery gelingt es, die Widersprüche, die Ängste und die Hoffnungen der Vereinigten Staaten in Bilder zu fassen, die gleichermaßen verstörend wie ästhetisch brillant sind. Die Deichtorhallen bieten mit dieser Schau die seltene Gelegenheit, das Werk eines der wichtigsten Dokumentarfotografen seiner Generation in einer ebenso anspruchsvollen wie zugänglichen Präsentation zu erleben. Für jeden, der sich ernsthaft mit der Kraft und der Verantwortung der Fotografie im 21. Jahrhundert auseinandersetzt, ist dieser Besuch fast schon Pflicht. Man verlässt die Ausstellung nicht mit einfachen Antworten, sondern mit einem geschärften Blick für die Fragilität von Gesellschaften – und mit dem tiefen Respekt vor einem Fotografen, der hinsieht, wo andere wegblicken.

Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

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