
Um eine Idee davon zu bekommen, was die nächste Stufe der künstlichen Intelligenz, die „Proaktive KI“, für die Zukunft der Bildgestaltung bedeutet, machen wir ein kleines Experiment. Stellen Sie sich folgende Szene vor: Ein Fotograf sitzt nach einem langen Shooting nach dem Hochladen der Bilder vor seinem Rechner. Plötzlich erscheint eine unaufgeforderte Benachrichtigung seiner Bildverwaltungssoftware: „Analyse abgeschlossen. Ich habe die 20 Aufnahmen mit dem höchsten kommerziellen Potenzial identifiziert, daran erste kleine Retuschen, sowie Farb- und Belichtungskorrekturen wie üblich vorgenommen und drei verschiedene Looks für eine Kundenpräsentation nach Auswertung der Social-Media-Feeds des Kunden vorbereitet. Sollen wir weitermachen?“
Was eben noch nach einer Utopie aus einem Science-Fiction-Roman klang, schleicht sich leise in unseren digitalen Alltag. Wir sind Zeugen eines stillen, aber fundamentalen Wandels: Künstliche Intelligenz entwickelt sich von einem reaktiven Werkzeug, das auf unsere Befehle wartet, zu einem proaktiven System, das Kontexte versteht, Absichten antizipiert und selbstständig handelt. Dieser Übergang stellt eine Zäsur dar – mit tiefgreifenden Folgen für unser Selbstverständnis als professionelle Bildgestalter.
Vom Befehlsempfänger zum Mitdenker
Blicken wir kurz zurück, um die Dimension dieser Veränderung zu ermessen. Die Beziehung zwischen Mensch und digitaler Maschine war über Jahrzehnte klar definiert und hierarchisch. Wir gaben präzise Befehle, der Computer führte sie aus. Ein Klick auf ein Werkzeug, ein Zug an einem Regler – so funktionierte digitale Bildbearbeitung seit den Pioniertagen von Photoshop. Die Software war ein gehorsames, aber dummes Instrument, das ohne unseren expliziten Anstoß keinen einzigen Pixel bewegte. Die Entwicklung fand allenfalls in der Verkürzung der Prozesse durch neue Werkzeuge statt.
Der Wandel hin zur proaktiven KI lässt sich treffend mit der Evolution vom klassischen Telefon zum heutigen Smartphone vergleichen. Das alte Wählscheibentelefon war ein rein reaktives Gerät; es wurde nur aktiv, wenn ein externer Impuls – ein Anruf – erfolgte oder man selbst eine Nummer wählte, um mit einer Gegenstelle verbunden zu werden. Das Smartphone hingegen agiert permanent im Hintergrund. Es analysiert unser Verhalten, lernt unsere Routinen und greift ungefragt in unseren Tag ein: mit Terminerinnerungen, Stauwarnungen und personalisierten Nachrichten. Es interpretiert unsere Absichten. Genau diese Entwicklung vollzieht sich nun in unseren Kreativ-Werkzeugen. Moderne Systeme warten nicht mehr auf die exakte Anweisung, sondern schlagen von sich aus Handlungen vor, erkennen komplexe Bildinhalte und nehmen uns Arbeitsschritte ab, bevor wir sie selbst als notwendig erachtet hätten. Die KI wird vom passiven Werkzeug zum aktiven Mitdenker.

Proaktive Intelligenz in der Praxis
Dieser Wandel ist bereits gelebte Realität in zahlreichen professionellen Anwendungen. Der Autofokus einer modernen Kamera wie der Sony Alpha 7R V erkennt nicht nur Gesichter und Augen, sondern antizipiert dank KI-gestützter Analyse die Bewegungsvektoren eines Motivs und hält es selbst bei schwer vorhersehbaren Manövern präzise im Fokus. Die Kamera wird vom passiven Aufnahmegerät zum intelligenten Foto-Jagdpartner.
Software wie Excire Foto analysiert eigenständig riesige Bildarchive, verschlagwortet diese auf Basis von Bildinhalten und ästhetischen Kriterien und ermöglicht so eine intuitive Suche, die weit über simple Metadaten hinausgeht. Die mühsame manuelle Katalogisierung übernimmt ein unsichtbarer Archivar, der den semantischen Gehalt der Bilder zu verstehen scheint. Werkzeuge wie Topaz Photo AI analysieren ein Bild auf technische Mängel und bieten mit einem Klick Lösungen für Rauschen, Unschärfe oder Kompressionsartefakte an. Die Software agiert nicht mehr als Reparaturservice, sondern als vorausschauender Restaurator.
Bei all diesen Fortschritten verschwimmt die Grenze zwischen unserem schöpferischen Beitrag und dem algorithmischen Anteil zusehends. Wenn eine Software wie Luminar Neo selbstständig den Himmel austauscht, eine Porträtaufnahme optimiert und eine Farbharmonie vorschlägt, die wir vielleicht nie in Betracht gezogen hätten – wessen Handschrift trägt das finale Bild? Wenn wir mit einem Werkzeug wie DragGAN durch einfaches Ziehen die Körperhaltung einer Person oder den Gesichtsausdruck eines Porträts fundamental verändern und die KI die fehlenden Bildinformationen fotorealistisch ergänzt – wo endet die Bearbeitung und wo beginnt die Neuschöpfung?
Jenseits der Optimierung: Die KI als Impulsgeber
Die wirklich tiefgreifende Veränderung liegt jedoch jenseits der reinen Arbeitserleichterung. Proaktive KI-Systeme beginnen, als kreative Impulsgeber zu fungieren. Sie werden vom Werkzeug zum Sparringspartner. Text-zu-Bild-Generatoren wie Leonardo AI mit seiner Prompt-Hilfe sind die prominentesten Beispiele. Sie führen nicht mehr nur Befehle aus, sondern interpretieren unsere vagen Ideen, assoziieren frei und überraschen uns mit visuellen Lösungen, die unser eigenes Vorstellungsvermögen übersteigen. Sie sind keine passiven Render-Maschinen mehr, sondern aktive Teilnehmer am Ideenfindungsprozess.
Die Parallele zur Kunstgeschichte ist unübersehbar. Als die Fotografie im 19. Jahrhundert aufkam, stürzte sie die Malerei in eine Identitätskrise. Warum noch mühsam die Realität abbilden, wenn eine Maschine dies schneller und exakter vermag?
Wir stehen heute vor einer ähnlichen Weggabelung. Wenn eine KI jedes erdenkliche fotorealistische Bild auf Knopfdruck hervorbringen kann, worin liegt dann der zukünftige Wert unserer menschlichen Arbeit? Die Antwort könnte lauten: in der Konzeptstärke, der Kuration, der kontextuellen Einbettung und der emotionalen Tiefe. Im Warum, nicht mehr nur im Wie.
Die ethische Dimension: Zwischen Effizienz und Verantwortung
Die gesellschaftlichen Implikationen dieser Entwicklung sind gewaltig. Proaktive KI-Systeme werden zunehmend zu unsichtbaren Torwächtern, die unsere Wahrnehmung der Welt filtern – von den Nachrichten, die wir sehen, bis zu den Produkten, die uns empfohlen werden. Dies wirft fundamentale ethische Fragen auf. Wer kontrolliert die Algorithmen, die diese Entscheidungen treffen? Wie transparent sind ihre Funktionsweisen? Und wer trägt die Verantwortung für ihre Fehler?
Besonders kritisch ist die Tendenz von KI-Systemen, in den Trainingsdaten vorhandene Vorurteile zu erlernen und zu reproduzieren. Was passiert, wenn eine KI, trainiert auf einem Datensatz westlicher Schönheitsideale, global zur automatischen Porträtretusche eingesetzt wird? Die vermeintlich objektive Maschine kann so zum Brandbeschleuniger für gesellschaftliche Schieflagen und zur Normierung von Vielfalt werden. Gleichzeitig liegen in der proaktiven KI enorme Chancen für mehr Barrierefreiheit und die Demokratisierung kreativer Prozesse. Die entscheidende Frage ist nicht, ob wir diese Technologie nutzen, sondern wie wir sie gestalten.
Fazit: Der Mensch als Kurator seiner Werkzeuge
Kehren wir zu unserem Fotografen zurück. Ist die proaktive KI für ihn nun Segen oder Fluch? Befreiung von repetitiver Plackerei oder schleichende Entmündigung seiner kreativen Autorität? Die Antwort ist ambivalent. Proaktive KI kann uns von technischem Ballast befreien und den Kopf freimachen für das, was wirklich zählt: die Bildidee, die Geschichte, die Haltung. Sie kann technische Hürden senken und uns helfen, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Die Gefahr besteht jedoch darin, dass wir die Bequemlichkeit über die bewusste Entscheidung stellen. Dass wir die kreative Auseinandersetzung an Algorithmen delegieren und uns mit dem erstbesten, maschinell generierten Vorschlag zufriedengeben. Dass wir vom Schöpfer zum reinen Kurator von Optionen werden.
Die Zukunft liegt vermutlich in einer neuen Form der Mensch-Maschine-Kollaboration. Die KI wird zum intelligenten Resonanzboden für unsere eigenen Ideen, zum Werkzeug, das nicht nur ausführt, sondern auch inspiriert und herausfordert. Die Kunst wird darin bestehen, die Kontrolle nicht abzugeben, sondern sie bewusster auszuüben – zu wissen, wann man den Vorschlägen der Maschine folgt und wann man sie bewusst ignoriert.






Hallo Christoph!
Auch hier ein beeindruckender Artikel!! – Das gibt mir auch sehr viel Argumentationstiefe in Gesprächen mit meinen Kunden! ,- aber es gibt einen Trend ,- back to analog,- genau wie in der Musik,- für alle Leute, die kein 0815 wollen!
LG Jens Koenig
Grundsätzlich wieder und erneut ein durchaus interessanter Artikel. Aber – erlauben Sie mir nun eine kritische Bemerkung – irgendwie habe ich den Eindruck, dass Sie von Woche zu Woche eigentlich immer dasselbe schreiben. Die Artikel und deren Themen zu KI unterscheiden sich kaum noch. Selbst ganze Textpassagen, wie bspw. die Referenz zur Malerei, welche sich durch das Aufkeimen der Fotografie bedroht gefühlt hatte, kommen fast wortwörtlich in jedem zweiten Ihrer Beiträge vor. Was früher jede Woche der nächste (aber immerhin meist andere) Photoshop-Tipp auf DOCMA war, ist nun die immer wie ähnlicher zusammenwachsende Diskussion über KI und wie sie uns Kreative bedroht oder eben nicht oder eben teilweise oder eben nur diejenigen, die nicht (achtung, der x-fach wiederholte Standardausdruck) Kuratieren können jadajadajada… Sorry, falls ich ein wenig böhze wirke, aber ich wähne mich langsam in einem KI-generierten Artikeldschungel, welcher eigentlich mehrheitlich Dasselbe immer und immer wieder mehroderweniger neu iteriert. Täusche ich mich, oder geht es anderen (und auch dem Autor) ähnlich?!
Danke für Ihre aufmerksame Beobachtung! Ich muss Ihnen Recht geben: Viele Artikel drehen sich um diese Problemlage. Vermutlich lesen die wenigsten regelmäßig alle meine Artikel 🙂 Aber nachdem, was ich so aus den Gesprächen mit Kreativen mitnehme, haben die meisten längst noch nicht begriffen, dass es an ihnen selbst liegt, ihr Geschäftsmodell in Zeiten von KI zu retten und dass solche Veränderungen keine historische einmalige Entwicklung sind. Ich habe daher den Eindruck‘, man muss es immer wieder betonen.
Ja, da bin ich bei Euch Beiden, ja, es wiederholt sich immer wieder, leicht verschoben anderer Kontext, aber inhaltlich das Gleiche. Aber andererseits kann es eigentlich nicht oft genug wiederholt werden! Vielleicht beruhigt sich Christoph damit ja auch ein Stück weit selbst?
Denn ich beobachte für auch bei mir, dass, je länger man sich mit dem Thema beschäftigt, es immer notwendiger erscheint, Aufklärung zu leisten. Der Fotograf, der Kreative, der Mensch, die Gesellschaft läuft zwangsläufig in die beschriebenen Probleme hinein, wenn nicht gegengesteuert wird. Dass es hier eines Eingriffs bedarf, muss aber zuerst mal bewusst werden. Dem Einzelnen selbst. Und da hilft nur Aufklärung, Aufzeigen von möglichen Entwicklungsalternativen. Nur schade, dass die Docmatiker so wenig Influence haben 😉
Ja, etwas mehr „Influence“ könnte der Sache dienlich sein 🙂 Aber im Gegensatz zu früher haben wir es mit noch größeren und noch weniger an Medien (jenseits der Wirtschaftsberichterstattung) interessierten Stakeholder als früher zu tun.
Das Problem des mangelnden Influence, bzw. der generellen Sichtbarkeit ist schon ziemlich groß, zumal wenn man auch noch als Warnender auftritt. Auch ich bin, wie ihr, irgendwann vor zwei, drei Jahren zur „1000-Posts – immer weniger Follower“-Erkenntnis gelangt. Ich sehe in meiner Bubble täglich, dass die begeisternden Influencer deutlich mehr Sichtbarkeit haben, und die Kommentare darunter lassen darauf schliessen, dass nicht viel über den Inhalt hinaus reflektiert wird. Schreib doch mal einen Artikel testweise in einem solch begeisternden Ton, ohne mahnenden Zeigefinger und beobachte die Reaktionen. Vielleicht muss man ja erstmal die Fanbase deutlich erweitern, bevor man sich auch mal kritisch äußern kann. Ich weiß, ist nicht dein Ding. Meins auch nicht!
Ich glaube nicht, dass so eine Strategie zu mehr Einfluss führt. Vielleicht zu mehr Reichweite, aber vermutlich nicht bei den wichtigen Leuten. Aktuell haben wir rund 45.000 DOCMAtiker im System. Die meisten davon sind keine einfachen Follower, sondern haben mal irgendwann in den letzten 20 Jahren etwas bei uns gekauft. 35.000 bekommen jede Woche die Depesche und 60% öffnen sie. Eigentlich können wir uns also nicht über mangelnde Aufmerksamkeit beschweren 🙂 Nur auf den sozialen Medien sind wir halt nicht so gut…