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Das digitale Fotoalbum: Zwischen gedruckter Nostalgie und Display-Anarchie

Wir fotografieren mehr als je zuvor, doch unsere wertvollsten Erinnerungen sind inzwischen heimatlos. Sie irren zwischen Smartphone-Galerien, Cloud-Speichern und starren TV-Bildschirmen umher. Die Suche nach dem würdigen Nachfolger für das klassische Fotoalbum offenbart nicht nur ein technisches, sondern vor allem ein konzeptionelles Versäumnis in der digitalen Welt.

Wer kennt es nicht, das alte Ritual? Das schwere Album auf dem Schoß, der Geruch von altem Papier und Leim, das leise Knistern der Pergamin-Zwischenseiten. Jedes Umblättern war ein Akt der Entdeckung, eine gemeinsame Reise in die Vergangenheit. Diese haptische und vor allem gemeinschaftliche Erfahrung hat die private Fotografie über Jahrzehnte geprägt. Heute sieht die Szene anders aus: Jemand hält ein Smartphone hoch, wischt fahrig durch hunderte Aufnahmen. Ein anderes Familienmitglied versucht, das Geschehen auf dem großen 16:9-Fernseher zu verfolgen, auf den der kleine Handy-Bildschirm gespiegelt wird Das Ergebnis ist eine visuelle Katastrophe: Hochformatige Porträts werden zu von riesigen schwarzen Balken flankierten Streifen, während epische Landschaftsaufnahmen auf dem senkrecht gehaltenen Telefon zu Briefmarken schrumpfen. Das digitale Fotoalbum ist derweil ein Schlachtfeld der Formate.

Ein Problem, viele Bildschirme

Das ursprüngliche Dilemma des rechteckigen Bildschirms hat sich potenziert. Wir konsumieren unsere Bilder nicht mehr nur auf einem Gerät, sondern auf einem ganzen Arsenal an Displays mit unterschiedlichsten Proportionen und Ausrichtungen. Das brillante Porträt, das auf dem hochkant gehaltenen Smartphone perfekt zur Geltung kommt, verliert auf dem quergehaltenen Tablet oder dem riesigen 16:9-Wohnzimmer-Fernseher seine Wirkung. Umgekehrt wird die mit Bedacht komponierte Weitwinkelaufnahme auf dem Handy-Display zur visuellen Nebensache.

Diese technische Fragmentierung zerreißt den visuellen Erzählfluss. Eine sorgfältig zusammengestellte Bildstrecke, die eine Geschichte erzählen soll, scheitert an der Inkompatibilität der Abspielgeräte. Die Präsentation unserer Bilder ist dem Zufall der gerade verfügbaren Technik unterworfen. Es gibt keinen einheitlichen, verlässlichen Rahmen mehr, in dem unsere Fotografien ihre beabsichtigte Wirkung entfalten können. Wir haben die Kontrolle über die Präsentation verloren und sie an eine chaotische Gerätevielfalt abgetreten.

Das Fotobuch als unvollkommene Lösung

Angesichts dieses digitalen Chaos erscheint die Rückkehr zum Analogen wie eine logische Konsequenz. Und tatsächlich hat sich das gedruckte Fotobuch als populäre Alternative etabliert. Fotbuch-Anbieter bieten eine Fülle von Optionen, von einfachen Softcover-Heften bis hin zu aufwendigen Bänden auf echtem Fotopapier mit Layflat-Bindung, die Panorama-Ansichten über eine Doppelseite ohne störenden Falz ermöglichen. Diese Bücher bieten etwas, das der digitalen Welt völlig abgeht: physische Präsenz, Beständigkeit und eine vom Gerät unabhängige, kuratierte Erfahrung.

Doch ist dieser Weg mit eigenen Hürden gepflastert. Wer schon einmal ein umfangreiches Fotobuch gestaltet hat, weiß, dass dies ein ernsthaftes Projekt sein kann. Man muss sich durch oft überladene Gestaltungs-Software kämpfen, Bilder sortieren, Layouts anpassen und sich mit Beschnittzugaben und Auflösungswarnungen auseinandersetzen. Zwar versprechen intelligente Assistenten und KI-gestützte Vorschläge eine schnelle Lösung, doch wer präzise gestalterische Vorstellungen hat, kommt um eine intensive Auseinandersetzung mit der Software nicht herum. Viele schieben das Projekt von einem Wochenende zum nächsten, überfordert von den schier endlosen Möglichkeiten.

Das größte Manko des gedruckten Buches ist jedoch seine Endgültigkeit. Einmal gedruckt, ist die Geschichte abgeschlossen. Das eine, später wiederentdeckte Foto von der Reise kann nicht mehr hinzugefügt werden. Das Album ist ein abgeschlossenes Dokument, kein lebendiges Archiv. Es ist ein wunderschöner Anker in der Vergangenheit, aber es kann nicht mit uns wachsen.

Die unsichtbare Hürde: Kuration in der Datenflut

Ob digital oder gedruckt, das Grundproblem bleibt die schiere Masse an Bilddaten. Die meisten Anbieter von Fotobuch-Apps haben erkannt, dass die größte Hürde für den Anwender die Auswahl der Bilder ist. Deshalb bieten sie intelligente Funktionen, die automatisch die besten Bilder auswählen, Duplikate erkennen oder sogar ganze Alben basierend auf Ereignissen oder Orten vorschlagen. Einige Apps lesen sogar GPS-Daten aus und fügen dem Buch eine Landkarte mit der Reiseroute hinzu.

Diese Werkzeuge sind nützliche Hilfsmittel, um der Datenflut Herr zu werden. Sie lösen aber nicht das fundamentale Problem, dass wir die Kunst der Kuration verlernt haben. Früher zwang uns der 36er-Film zur Disziplin. Heute fotografieren wir ohne Limit und überlassen die Organisation Algorithmen. Das Resultat sind oft generische, seelenlose Zusammenstellungen statt einer persönlich und mit Bedacht getroffenen Auswahl. Das Fotobuch, ob auf dem Bildschirm oder auf Papier, wird so nur zu einer etwas besser organisierten Version unserer chaotischen Smartphone-Galerie.

Eine Vision für das Album als intelligenter Assistent

Die Vision eines solchen lebendigen Albums erfordert keine neue Gerätekategorie. Sie sollte so etwas sein wie eine sich selbst nach Vorgaben kuratiernde Bildershow, die Bilder – unabhängig von der Bildschirmausrichtung – dem Inhalt angemessen darstellt.

Sie wäre der nächste logische Evolutionsschritt der Systemsoftware auf unseren Smartphones, Tablets und Rechnern. Eine solche KI muss weit über die heutigen, oft trivialen und kaum steuerbaren „Rückblicke“ hinausgehen, die lediglich auf Metadaten wie Datum und Ort und auf erkannten Personen basieren. Die Zukunft liegt in einem System, das nicht nur verwaltet, sondern Fotografie versteht – ein digitaler Kurator, der als intelligenter Assistent im Hintergrund agiert.

Dieser Assistent würde nicht nur Gesichter im Alterungsprozess erkennen, sondern auch fotografische Qualität bewerten. In einer Porträtsession mit 50 Aufnahmen würde er nicht nur Duplikate finden, sondern proaktiv melden: „Von dieser Serie sind drei Aufnahmen perfekt auf das Auge fokussiert. Bei dieser hier ist zusätzlich das Lächeln am natürlichsten.“ Der Fotograf behält die volle Kontrolle, doch die mühsame Vorsortierung von hunderten Bildern entfällt.

Die wahre Stärke läge aber im Erkennen von Zusammenhängen, die im Datenrauschen untergehen. Der Assistent würde über Jahre hinweg Muster identifizieren: „Ihnen ist womöglich nicht bewusst, dass Sie den alten Bootssteg am See bereits fünfmal zu unterschiedlichen Jahreszeiten fotografiert haben. Ich habe daraus eine mögliche Serie zusammengestellt.“ Oder er schlägt eine narrative Struktur für einen Reisebericht vor: „Für Ihren Schottland-Urlaub schlage ich eine Dramaturgie vor: Beginnend mit den weiten Landschaften, gefolgt von den Architekturdetails aus Edinburgh und abschließend die Porträts. Das kurze Video vom Dudelsackspieler würde sich gut als Übergang eignen.“ Auch könnte es Bilder im falschen Format anpassen. Zum Beispiel indem es eine Detailbetrachtung in einen Film verwandelt, damit zum Beispiel ein Panorama auch im Hochformat funktioniert.

Ein solches System ersetzt nicht die menschliche Kreativität. Es potenziert sie. Es verwandelt unsere chaotischen, unüberschaubaren Archive von einem Datenhaufen in eine Quelle der Inspiration und Wiederentdeckung. Die KI übernimmt die Rolle des unermüdlichen Archivars und Bildredakteurs, sodass wir uns auf das Wesentliche konzentrieren können: die finale, inhaltlich relevante Auswahl und die Geschichte, die wir damit erzählen wollen.

Bis das Wirklichkeit wird, bleiben unsere visuellen Biografien fragmentiert. Wir jonglieren solange mit unvollkommenen Lösungen – dem flüchtigen Wischen auf dem Handy, der verzerrten Darstellung auf dem Fernseher und dem statischen, aber schönen gedruckten Buch. Die Suche nach dem perfekten Fotoalbum für das 21. Jahrhundert hat wohl gerade erst begonnen.

Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

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