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Leica M EV-1: Eine M für Warmduscher?

Es gibt in der Welt der Fotografie Dogmen, die als unumstößlich gelten. Eines davon, das von der Marke Leica über Jahrzehnte kultivierte Heiligtum, wird nun geschleift: der mechanische Messsucher. Mit der Ankündigung der Leica M EV-1, die statt des legendären optischen Mischbild-Entfernungsmessers einen elektronischen Sucher besitzt, begeht das Wetzlarer Unternehmen einen kalkulierten Tabubruch. Es ist ein Sakrileg, das die Gemeinde der Puristen in ihren Grundfesten erschüttert. Denn dieser Schritt entlarvt schonungslos den Mythos, den Leica selbst so kunstfertig gewoben hat.

Das Evangelium des Messsuchers

Über siebzig Jahre lang predigte Leica das Evangelium des Messsuchers. Es war nicht nur eine technische Lösung, sondern eine Philosophie. Der Fotograf, so die Lehre, solle nicht durch einen Tunnel auf die Welt blicken, sondern Teil der Szene sein. Der helle, klare Rahmen des Messsuchers, der mehr anzeigte als den späteren Bildausschnitt, erlaube es, den entscheidenden Moment zu antizipieren. Das manuelle Fokussieren über das sich überlagernde Doppelbild wurde als Akt der meditativen Konzentration zelebriert, als bewusste Entschleunigung in einer immer schnelleren Welt. Wer eine Leica M bediente, war kein bloßer Bildermacher; er war ein Connaisseur, ein Meister der Reduktion, der die volle Kontrolle über sein Werkzeug ausübte. Diese Erzählung war so wirkmächtig, dass die technischen Limitierungen des Systems nicht als Defizit, sondern als Tugenden verklärt wurden.

Die unbequeme Wahrheit der Praxis

Doch abseits der Hochglanzbroschüren und der philosophischen Abhandlungen sah die Realität für jeden, der mit einer Leica M ernsthaft arbeiten wollte, anders aus. Die angebliche Überlegenheit des Systems offenbart sich bei genauerer Betrachtung als eine Kette von Kompromissen, die professionelles Arbeiten zur Geduldsprobe macht. Das Fokussieren mit lichtstarken Objektiven bei Offenblende gerät zum Glücksspiel. Die geringe Vergrößerung des Sucherbildes macht eine präzise Schärfebeurteilung fast unmöglich, was zu einer signifikant höheren Ausschussquote führte – ein Luxus, den sich im professionellen Alltag, wo es auf Geschwindigkeit ankommt, niemand leisten kann.

Bei längeren Brennweiten schrumpft der eingespiegelte Bildfeldrahmen zu einem winzigen Rechteck, das eine exakte Komposition verhindert. Die angebliche Tugend der Entschleunigung entpuppt sich in der Praxis oft als lähmende Langsamkeit, die genau jenen „entscheidenden Moment“, den Henri Cartier-Bresson mit seiner Leica einst definierte, unerreichbar macht. Das System, das im vergangenen Jahrhundert für seine Schnelligkeit und Diskretion berühmt war, ist längst ein Anachronismus.

Vom Werkzeug zum Schmuckstück

Die Konsequenz dieser Entwicklung ist eine schleichende, aber unaufhaltsame Verschiebung der Zielgruppe. Während die Leica M in den Händen von Legenden wie Robert Capa in der 1950ern oder Sebastião Salgado in der 1970ern ihre Rolle als robustes Werkzeug für die vorderste Front der Reportagefotografie ausfüllte, wandelte sie sich zunehmend zum Statussymbol. Heutige Modelle finden ihren Weg in die klimatisierten Vitrinen von Anwaltskanzleien und die Wochenendtaschen von Chefärzten. Die Leica M ist das Äquivalent einer Patek Philippe am Handgelenk oder eines klassischen Porsche 911 in der Garage: ein wunderschönes Stück Ingenieurskunst, ein Bekenntnis zu bleibenden Werten, aber für den täglichen, fordernden Einsatz nur noch bedingt tauglich. Man schmückt sich mit ihr als Symbol für ein anderes, möglicherweise interessanteres Leben. Aber wer dieses Leben wirklich lebt, verdient sein Geld mit Kamerasystemen, die eine verlässliche und schnelle Bildkontrolle bieten.

Die Erlösung durch den Verrat

Und hier schließt sich der Kreis zur Leica M EV-1. Der Einbau eines hochauflösenden elektronischen 5,76-Megapixel-Suchers ist aus Sicht der Puristen ein Verrat an der eigenen Identität. Doch aus pragmatischer Sicht ist es der erste Schritt einer logischen Weiterentwicklung. Plötzlich werden die Nachteile des Messsuchers pulverisiert. Ein elektronischer Sucher bietet eine hundertprozentige Bildfeldabdeckung, eine exakte Vorschau von Belichtung und Schärfentiefe sowie die Möglichkeit zum FFokus-Peaking, das das leider immer noch notwendige manuelle Scharfstellen auch mit lichtstarken Objektiven vom Glücksspiel zu einer präziseren Handlung macht.

Ironischerweise verwandelt dieser angebliche Verrat die Leica M ein Stück weit wieder zu dem, was sie ursprünglich war: ein hochpräzises Werkzeug für anspruchsvolle Fotografen. Die exzellenten M-Objektive, deren optisches Potenzial bei Offenblende mit dem Messsucher kaum verlässlich auszuschöpfen war, können nun endlich ihr Potenzial entfalten.

Die Aufregung, die seit Aufkommen der Gerüchte um das neue Modell, in den Foren der Traditionalisten grassiert, ist in gewisser Weise verständlich, aber sie verkennt den Kern der Sache. Leica opfert nicht seine Seele, sondern befreit sein ältestes Kamerasystem von zumindest einer Fessel seiner eigenen Mythologie. Die M EV-1 ist keine Leica M für Warmduscher, dafür muss man immer noch zu viele Kompromisse eingehen. Aber sie ist eine Leica für Fotografen, die sich nicht länger einreden lassen wollen, dass jede technische Einschränkung eine künstlerische Tugend sei. Sie hilft den entscheidenden Moment nicht nur zu antizipieren, sondern ihn auch scharf festzuhalten.

Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

4 Kommentare

  1. „Die Aufregung, die seit Aufkommen der Gerüchte um das neue Modell, in den Foren der Traditionalisten grassiert, ist in gewisser Weise verständlich, aber sie verkennt den Kern der Sache.“

    Der „Kern der Sache“ wird in Foren ja gerne verkannt/ ignoriert. Ganz besonders in Markenforen geht es schon lange nicht mehr um den Kern überhaupt irgendwelcher Sachen. Aber was ist der Kern eines jeden individuellen Fotografen?! 😉

    Eine „M“ mit EVF hat für mich vor allem immer noch eines: das wunderbare Gehäuse und die die wunderbaren kleinen M-Objektive inkl. der echten manuellen Fokussierung (nix by-wire Käse); aber eben ohne die „Last“ der Messsuchers.

    Über Preise oder Preisdifferenzen (zur „echten“ M) .. muss man gar nicht erst anfangen zu philosophieren. Ist müssig. Vergleiche mit der „SL“, einer „GFX“ oder anderen Kameras? Funktioniert so nicht.

    Tolle Kamera. Trotz EVF immer noch einzigartig und nicht vergleichbar.

  2. Ich halte sie selbstverständlich für vergleichbar, so wie alles. Diese angebliche Unvergleichbarkeit ist genau die Portion Mythos, die das Unternehmen seit Jahrzehnten pflegt.

    Damit rede ich weder unangemessen die Kamera noch die Optiken schlecht, sondern das Brimborium drumherum.

    1. Vergleichbar ist alles, so gesehen sicher richtig und eventuell missverständlich ausgedrückt; die Frage ist nur, ob es in allen Aspekten eines Produktes immer einen anderen Hersteller gibt, der es ebenso gut macht. Und da fallen mir eben bei Leica und auch Hasselblad eben ein paar Dinge ein, die zwar nicht unvergleichbar sind, aber eben einzigartig (gut). Aber alles Dinge abseits der Datenblätter. Was gehört denn alles in die Kategorie „Brimborium“, ausser dem „Mythos“ (geschenkt, der Punkt).

  3. Phantastischer Artikel, der den Kern der Sache zutreffend beschreibt, vielen Dank!
    Als Fotograf der mit dem job Geld verdienen muss kann man mit einem System das offenblendig auf Zufallstreffer angewiesen ist natürlich nichts anfangen. Mein größter Respekt gilt allerdings der Marketingabteilung von Leica, die es geschafft hat unzulängliche und völlig überholte Technik als etwas Außergewöhnliches zu vermarkten. Das ganze zu absurden Preisen.
    Luxusartikel wie auch mechanische Uhren leben natürlich von dieser ‚Mystik‘, allerdings würde Breitling nie behaupten dass eine ‚Navitimer‘ die Zeit präziser anzeigen kann als eine billige Quarzuhr. Genau das stört mich an dem Leica M ‚Gedöns‘ das jetzt mit einem EVF vielleicht sein Ende findet …

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