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Beschnitt = Manipulation?

Wer dokumentarische Bilder beschneidet und damit mehr als nur den unscharfen Hintergrund entfernt, gerät schnell in den Verdacht, manipulieren zu wollen. Dass es nicht immer so einfach ist, zeigt die jüngste Debatte über ein ikonisches Foto des Vietnamkriegs, das Nick Ut vor 43 Jahren aufnahm.

Denise Chongs Biographie erzählt die Geschichte von Phan Thi Kim Phuc, dem Mädchen, das 1972 nur knapp ein Napalm-Bombardement überlebte.

Jeder hat dieses Bild schon einmal gesehen: Eine Gruppe vietnamesischer Kinder flieht aus einem Dorf, das die südvietnamesische Luftwaffe irrtümlich mit Napalm bombardiert hatte; das „friendly fire“ hatte Zivilisten ebenso wie eigene Bodentruppen getroffen.

Der AP-Fotograf Nick Ut war mit mehreren Kollegen vor Ort, um die Kampfhandlungen zu dokumentieren. Nach dem Luftangriff liefen plötzlich mehrere Kinder schreiend die Straße entlang und kamen auf die Presseleute zu. Nick Ut fotografierte diese Szene zunächst mit einer Nikon mit 300-mm-Tele, dann, als die Gruppe näher kam, mit einer Leica M2 und einem 35-mm-Weitwinkel. Ihm wurde jedoch schnell klar, dass er eingreifen musste. Die Kinder hatten durch das Napalm schwere Verbrennungen erlitten; Phan Thi Kim Phuc, das Mädchen im Vordergrund – die übrigen Kinder waren ihre Brüder und Cousins – war nackt, weil sie sich die brennende Kleidung vom Leib gerissen hatte. Ut brachte die Kinder ins nächstgelegene Krankenhaus und sorgte durch die Androhung einer negativen Berichterstattung dafür, dass sie auch sofort behandelt wurden. Phan Thi Kim Phuc hätte ihre Verletzungen sonst wohl nicht überlebt.

Nick Uts Bild ging um die Welt und prägte das Bild vom Vietnamkrieg. Die Version, die damals ausschließlich veröffentlich wurde, zeigte allerdings nur einen Ausschnitt – etwa die Hälfte des originalen Tri-X-Negativs. Am oberen Rand war Himmel weggefallen, am rechten Rand vor allem der Reporter David Burnett vom Time Magazine. Auf diese Weise wurde Phan Thi Kim Phuc in den Mittelpunkt gerückt und die Bildkomposition fraglos verbessert. Aber wurde das Foto durch diesen Beschnitt nicht auch verfälscht?

Anlässlich eines aktuellen Artikels in „Vanity Fair“, der über Nick Ut und sein ikonisches Bild berichtet, griff die Süddeutsche Zeitung das Thema auf. SZ-Autor Willi Winkler erweckt den Eindruck, das 1972 veröffentlichte und im Jahr darauf mit einem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Foto würde aufgrund des Beschnitts nicht die ganze Wahrheit zeigen: „Vanity Fair zeigt übrigens das vollständige Bild 7a. Wenn man die Reportage allerdings ausdrucken will, ist das Bild wieder zum vertrauten Format beschnitten. Bilder lügen wie gedruckt.“ Nun ist das ohnehin sachlich falsch; beim Druck der Webseite wird das Bild keineswegs beschnitten und es steht zu vermuten, dass Winkler hier bloß ein Problem mit seinem Drucker hatte. Aber der Vorwurf der Lüge geht noch aus einem anderen Grund in die Irre.

Es ist durchaus nicht so, dass ein Foto generell um so wahrhaftiger wäre, je größer der gezeigte Ausschnitt ist. Von keinem Foto könnte man beanspruchen, dass es die ganze Wahrheit zeigt: Wir erfahren nicht, was davor und danach passierte, wir kennen nicht die Ursachen der Ereignisse und die Motivationen der handelnden Personen, und all das kann für die richtige Beurteilung des Gezeigten ausschlaggebend sein. Nick Uts Foto zeigt notwendigerweise vieles Wichtige nicht, und es sind keineswegs die abgeschnittenen Teile des Originalnegativs, die hier fehlen – ganz im Gegenteil. Im vollständigen Bild ist rechts ein Fotoreporter zu sehen, der scheinbar seelenruhig den Film in seiner Kamera wechselt; die Kinder, die schreiend an ihm vorbei laufen, beachtet er nicht. Ein unbefangener Betrachter könnte daraus den Eindruck gewinnen, es sei überhaupt nichts Dramatisches passiert – vielleicht reagierten die Kinder bloß erschrocken, wenn nicht gar die Szene sogar bloß arrangiert wäre. Dass die vom Napalm getroffenen Kinder schwere Verbrennungen haben und sich ihre Haut bereits abzulösen beginnt, ist im Bild nicht zu erkennen; wir brauchen die Auskunft des Fotografen, der das abgebildete Geschehen in den richtigen Kontext rückt. Indem der damalige AP-Bildredakteur das Bild beschnitt, hat er Elemente entfernt, die den Betrachter auf falsche Fährten geführt hätten, und so kommt das beschnittene Foto der Wahrheit näher als das ohne Wissen um die Zusammenhänge allzu missverständliche, vollständige Bild.

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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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2 Kommentare

  1. Unabhängig von der Frage, was denn die Wahrheit sei, und wieviel davon unsere Wahrnehmung uns zeigt (ohne aus Erinnerungen und Erwartungen dazuzukonstruieren), alleine die Wahl der Kamera, des Objektivs, des Standpunkts und auch des Ausschnitts schon ist eine Maßnahme der Inszenierung. Zu glauben, nur weil ich nicht aktiv als Regisseur in die Szene eingreife, wäre etwas „objektiv“, ist naiv.

    Manipulation allerdings, unterstellt einen missbräuchlichen Zweck. Eine unethische Haltung. Das kann ich zumindest in diesem Fall nicht erkennen. Die Botschaft, nämlich das Leid, das der Krieg auslöst, die bleibt.

  2. Zu diesem guten und differenzierten Beitrag gibt es nur eine Anmerkung. Bei dem rechts im Bild befindlichen Fotografen handelt es sich nicht um David Burnett von Time sondern um den Vietnamesen Hoang van Danh. Er arbeitete als freier Fotograf für AP und UPI. Da Nick Ut für AP vor Ort war, verkaufte er seine Bilder an UPI. Sie sind heute noch im Archiv der Agentur Corbis zu finden, die die UPI Bilder übernommen hat. David Burnett war zwar vor Ort und musste wie Van Danh in dem Moment der höchsten Dramatik den Film wechseln. Das führt noch immer zu Verwechselungen.

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