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Ist die Kehrwertregel noch zeitgemäß?

Im vergangenen Jahrhundert, als das Kleinbildformat die Fotografie dominierte, galt die Empfehlung, nicht länger zu belichten als es dem Kehrwert der Brennweite in Millimetern entsprach. Aus gutem Grund, denn bei längeren Verschlusszeiten drohte Verwacklungsunschärfe. Die Auto-ISO-Funktionen aktueller Digitalkameras arbeiten noch immer mit einer nur geringfügig modifizierten Kehrwertregel, obwohl sie weitgehend ihren Sinn verloren hat.

Heutzutage entstehen die meisten Fotos mit Sensoren, die entweder größer oder (weit häufiger) kleiner als das Kleinbildformat sind, was Anpassungen der Kehrwertregel erfordert. Man muss mit der kleinbildäquivalenten statt der wahren Brennweite rechnen, um zu verwertbaren Ergebnissen zu kommen. Auch dann ist es nur eine Faustregel, der man nicht sklavisch folgen sollte: Ob man eine ruhige Hand hat oder eher zittert, spielt für die nötige Verschlusszeit ebenso eine Rolle wie die Sensorauflösung. Wenn mit 40, 60 oder 100 Megapixeln noch pixelscharfe Bilder entstehen sollen, muss man deutlich kürzer belichten als es die Kehrwertregel besagt. Die ISO-Automatiken mancher Kamerahersteller berücksichtigen das und bieten optional Varianten der Kehrwertregel an, die den ISO-Wert heraufschrauben, wenn sonst die Hälfte oder das Doppelte des Kehrwerts überschritten werden müsste.

Eine ISO-Automatik erhöht den ISO-Wert (links) meist in Abhängigkeit von der Brennweite, damit die Verschlusszeit (rechts) nicht deren Kehrwert überschreitet. (Foto: Fujifilm)

Davon abgesehen muss man sich aber eine radikalere Frage stellen, nämlich ob es heute überhaupt noch sinnvoll ist, die längste Belichtungszeit von der Brennweite abhängig zu machen, wie es die Kehrwertregel auch in all ihren Abwandlungen tut.

So lange es um die Verhinderung von Verwacklungsunschärfen geht, spielt die Brennweite tatsächlich eine entscheidende Rolle. Zumindest bei einer Verwacklung der Kamera durch Schwenken oder Kippen, denn die Unschärfe, die bei einer Drehung um einen bestimmten Winkel entsteht, wächst proportional mit der Brennweite. Bei waage- oder senkrechten Verschiebungen der Kamera spielt die Brennweite nur noch eine eingeschränkte Rolle, denn die Entfernung ist dann der wichtigere Faktor, und bei Drehungen um die optische Achse ist die Unschärfe unabhängig von der Brennweite immer dieselbe. Da Kipp- und Schwenkbewegungen aber die häufigste Ursache von Verwacklungsunschärfen sind, erscheint es durchaus sinnvoll, sich für eine Begrenzung der Verschlusszeit an der Brennweite zu orientieren.

Die Konica Minolta Dimâge A2 war 2004 die erste
Kamera mit integriertem Bildstabilisator auf Basis
eines beweglichen Sensors. (Foto: Konica Minolta)

Allerdings geht die Kehrwertregel auf eine Zeit zurück, als eine aktive Bildstabilisierung noch gar nicht erfunden war. Die erste Kompaktkamera mit optischem Bildstabilisator war die Nikon Zoom 700 VR aus dem Jahre 1994, das erste stabilisierte Wechselobjektiv, ein Jahr später, das Canon EF 4-5,6/75-300 mm USM IS. 2004 brachte Konica Minolta mit der Dimâge A2 eine Kamera auf den Markt, die das Bild mit einem beweglichen Sensor stabilisierte.

Seitdem hat sich die Bildstabilisierung mit beweglichen Linsen, Sensoren oder beidem auf breiter Basis durchgesetzt. Zwar gibt es nach wie vor Kameras und Objektive ohne Bildstabilisator, und auch wenn dieser vorhanden ist, bleiben immer noch Situationen, in denen nur eine kurze Belichtungszeit helfen kann. Das wichtigste Mittel gegen Verwacklungsunschärfe ist heutzutage jedoch der Bildstabilisator und nicht mehr der Verschluss, dem ein hoher ISO-Wert kürzere Zeiten möglich macht.

Aber Bewegungen der Kamera sind ja nur eine der möglichen Ursachen von Bewegungsunschärfe; die andere sind Bewegungen des Motivs. Genau genommen gibt es noch eine dritte, nämlich Bewegungen der Lichtquelle, die selbst bei statischen Motiven deren Schatten zum Tanzen bringen. Es kann also weiterhin gute Gründe geben, zur Vermeidung von Unschärfe kürzer zu belichten und dafür den ISO-Wert heraufzuschrauben, nur haben sie wenig mit der Brennweite zu tun. Die Kehrwertregel hilft hier nicht weiter.

Welche Unschärfen Bewegungen des Motivs verursachen, hängt vom Abbildungsmaßstab ab. Dieser ist das Verhältnis der Bildweite b (dem Abstand des Objektivs zum scharfen Bild dahinter) zur Gegenstandsweite g (der Entfernung), also b / g. Wenn man die Linsengleichung

1/b + 1/g = 1/f

die Bildweite und Gegenstandsweite in Beziehung zur Brennweite f setzt, nach b auflöst, erhält man

b = (g × f) / (g − f)

und wenn man diesen Term in b / g einsetzt, ergibt sich nach einigen trivialen Umformungen der Abbildungsmaßstab als

f / (g − f)

Wenn wir uns nicht im Nahbereich bewegen und die Entfernung vielfach größer als die Brennweite ist, lässt sich das annäherungsweise zu

f / g

vereinfachen. Das bedeutet, dass der Abbildungsmaßstab um so größer ist, je länger die Brennweite und je kürzer die Entfernung ist. Aber das hatten Sie sich sicher schon gedacht, auch ohne all die Rechnerei. Starke Bewegungsunschärfen können jedenfalls auch bei einer kurzen Brennweite auftreten, wenn die Entfernung gering ist.

Dabei muss man gar nicht rechnen. „Wichtig ist auf’m Platz“, wie man im Fußball sagt, und übertragen auf die Fotografie heißt das, dass es allein um die Bewegungen in dem Bild geht, das der Sensor sieht. Und das kennt eine Digitalkamera, eben weil ihr Sensor diese Live-View-Bilder auch zwischen den Aufnahmen sieht. Zumindest gilt das für Kompaktkameras und spiegellose Systemkameras; DSLRs haben diese Chance nicht, aber ihr Marktanteil ist nur noch gering und geht immer weiter zurück. Die Kamera muss nur die Differenz zwischen zwei Live-View-Frames berechnen, um das Ausmaß der Bewegungen und die nötige kurze Verschlusszeit zu ermitteln.

Dass sich das Model in Ewa Kuichs Modenschau auf mich zu bewegt (links), erkennt man anhand der Differenz (rechts) zum folgenden Frame.

Für solche Auswertungen genügen recht simple Algorithmen; man muss hier nicht die KI bemühen. Wenn die Kamera die nötige Verschlusszeit und den entsprechenden ISO-Wert auf Basis der Bewegungen in den letzten paar Sekunden vor dem Druck auf den Auslöser bestimmt – in der meist zutreffenden Annahme, dass sich das Motiv auch während der Aufnahme mit gleicher Geschwindigkeit bewegen dürfte –, wird das Motiv in einem scharfen Bild eingefroren werden.

Ein Bildstabilisator sorgt dafür, dass der Hintergrund wie in diesem Beispiel keine Bewegung zeigt. Ohne eine Bildstabilisierung werden auch Kamerabewegungen mit berücksichtigt, und so würde dieses Verfahren in jedem Fall zu scharfen Bildern führen, unabhängig davon, ob ein Bildstabilisator aktiv ist oder nicht. Die Kehrwertregel ist so oder so überflüssig.

Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

8 Kommentare

  1. Man braucht ja gar nicht 2 Frames zu vergleichen. Dass die Belichtungszeit zu lang war erkennt man mehr als deutlich an der Bewegungsunschärfe des linken Schuhs. Die Fugen des Fussbodens sind in diesem Bereich, soweit man es trotz der geringen Auflösung des Bilds ermennen kann, scharf, der Schuh hat neben viel Mode auch eine ordentliche Portion Bewegungsunschärfe.
    Die selbe Aufnahme mit der kurzen Brenndauer eines Blitzlichts hätte sogar eine wesentlich raschere Bewegung trotz des geringen Abstands zum Objekt „eingefroren“. In der Aufnahme vorhandene Bewegungsunschärfen wären als ganz starke Unterbelichtung (bei ausreichender Blitzhelligkeit) kaum wahrnehmbar untergegangen.

    1. Ja, man kann die Bewegungsunschärfe in einem Frame auswerten, aber das ist recht aufwendig – und unnötig, weil der Vergleich zweier Frames die Bewegungen klar offenbart. Man muss dann auch nicht herauszufinden versuchen, ob eine entdeckte Unschärfe wirklich Bewegungsunschärfe ist, oder andere Ursachen hat.

      1. Wenn nur ein Schuh beim Schritt nach vorne so verwischt ist, die Bodenfliesen in den selben Schärfeebenen jedoch nicht, käme ansonsten nur ein massiver Produktionsfehler des Objektivs in Frage.
        Ich kenne solche verwischte Extremitäten z.B. bei diversen Sportarten oder auch bei Tänzen. Selbst bei sehr kurzen Verschlusszeiten, wie man sie üblicherweise in der Sportfotografie verwendet, können einzelne Finger oder eben Fußspitzen und auch lange Haare Bewegungsunschärfen haben. Wobei besonders Haare natürlich auch eine Dynamik der ansonsten eingefrorenen Bewegung zum Ausdruck bringen, also auch erwünschte Unschärfebereiche sein.

        1. Wie man so sagt: „Don’t bite my finger, look where I’m pointing!“ … Wir müssen uns hier nicht an den Details dieses Bildes abarbeiten, das ja nur das Prinzip illustrieren soll: Wenn man aufeinander folgende Frames eines Live-View-Streams vergleicht, kann man auf Basis der Differenz solcher Frames schnell und zuverlässig erkennen, wo es Bewegung im Bildfeld gibt, wie stark diese Bewegungen sind und was für eine Verschlusszeit nötig wäre, um sie einzufrieren. Woraus sich dann wiederum der ISO-Wert ergibt, der eine so kurze Verschlusszeit möglich macht.

  2. Ich denke, es ist an der Zeit, dass die Kamerahersteller auch eine Bellichtungszeitautomatik zur Reduzierung oder Vermeidung von Bewegungsunschärfe einbauen.
    Auch auf eine histogrammorientierte Belichtungsautomatik warte ich schon lange.

    1. Das wären dann wohl die Programm-Presets wie „Sport“, „Vogel“ und Co., die es in kompakten Kameras früher gab (und heute vielleicht noch gibt). Per KI könnten die Kameras das Motiv automatisch erkennen und dann entsprechende Einstellungen vornehmen. Eine dringende Notwendigkeit sehe ich dafür aber nicht wirklich.

      Für eine „histogrammorientierte Belichtungsautomatik“ gibt bei Nikon die „Lichterbetonte Messung“, die im Prinzip so belichtet, dass das Histogramm gerade so nicht an den rechten Rand stößt und so quasi eine Überbelichtung ausschließt.

    2. Bei Verwendung der Mehrfeldmessung ist eigentlich jede Belichtungsautomatik histogrammbasiert. Es wird ja nicht – wie bei einer Spot- oder Integralmessung – stur so belichtet, dass ein mittlerer Tonwert im Bild als mittlerer Tonwert wiedergegeben wird, sondern das gesamte Spektrum der Tonwerte im Bild betrachtet. Welche Priorität dabei Lichter, Schatten und Mitteltöne haben, ist dann je nach Automatik (und Hersteller) unterschiedlich. Smartphones gehen hier noch etwas weiter, indem sie nicht nur die Belichtung auf das Histogramm ausrichten, sondern die Aufnahme – oder mehrere in schneller Folge aufgenommene Belichtungen mit unterschiedlicher Verschlusszeit – so verarbeiten, dass ein Bild mit ausgewogenem Histogramm dabei heraus kommt.

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