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Eindrucksvolle Street-Photography … und ein spannendes KI-Experiment

Alan Schallers Bildband „Metropolis”

Wenn Doc Baumann in seinen Blog-Beiträgen bisher Fotobücher vorgestellt hat, dann deswegen, weil er das darin Dargestellte spannend fand. „Metropolis“ von Alan Schaller ist nun das allererste, in dem ihn die Fotografie selbst interessierte. Von dem Londoner Fotografen Alan Schaller hatte er zuvor nie gehört. Die kontrastreichen Schwarzweißfotos dieses Bildbandes fand er sofort sehr beeindruckend. Und sie brachten ihn auf die Idee eines Vergleichsrätsels, bei dem Sie herausfinden sollen, welche der Bilder von Schaller stammen und welche mit Hilfe von KI generiert wurden.

@ Alan Schaller / teNeues (Ausschnitt)

„Meine Fotografien wollen interpretiert werden“, beginnt der Fotograf sein Vorwort. „Ich gebe ihnen selten Namen und erkläre meist nicht, was ich mir bei meinen Arbeiten gedacht habe … Sie werden [in dieser Einleitung] hauptsächlich zu lesen bekommen, wie ich vorgehe, und nicht unbedingt etwas darüber erfahren, wie man mein Werk ,richtig‘ versteht. Ich glaube, die wahre Magie der Kunst liegt in der Bedeutung, die sie aufgrund der eigenen Lebenserfahrung für jeden einzelnen von uns besitzt, und sie hängt davon ab, wie man sich einer Arbeit nähert, nicht davon, was sie einem zu geben hat. Das ist so eine Art Kooperation.“

Und in der Tat sind Schallers Fotos keine Dokumentationen, für deren Verständnis es wichtig wäre zu erfahren, wo und wann wer aufgenommen wurden. So ist es eine zwar im Einzelfall hilfreiche, aber keineswegs notwendige Information, wenn im angehängten Index Ort und Jahr der Aufnahme nachzulesen sind. Sie könnten irgendwo auf der Welt in einer beliebigen Großstadt fotografiert worden sein.

@ Alan Schaller / teNeues

Eigentlich habe ich es nicht so mit Schwarzweißfotos – schließlich ist unsere Welt farbig, und dass es zuerst keine Farbaufnahmen gab, war nur eine Frage der technischen Beschränkungen und später des Preises. Dass der Verzicht auf sie ein eigenständiges Stilmittel sein kann, war mir zwar bewusst; ich habe es aber noch nie so deutlich erlebt wie in diesem Band. Viele der Fotos sind in der Tat so schwarzweiß, dass Graustufen kaum noch eine Rolle spielen – zwar nicht gerade tongetrennt, aber mit so harten Kontrasten, dass daran nicht mehr viel fehlt. Scharfe Beleuchtung und Schlagschatten, oft rein schwarze oder weiße Flächen (Schaller schreibt zwar nichts über den Einsatz von digitaler  Nachbearbeitung, nur, dass er überwiegend mit einer Leica M Monochrom Typ 246 fotografiert; es ist jedoch anzunehmen, dass er die Tonwerte am Monitor akzentuiert.)

„Irgendwann wurde das Licht zu einem eigenen Thema“, schreibt er, „insbesondere in dem Sinne, dass ich es nutzte, um Negativraum  zu erzeugen. Je weniger man sieht, desto mehr stellt man sich vor – das war die Idee, mit der ich zu spielen begann. Details und Informationen wegzulassen, kann neue Wege eröffnen, eine Person oder eine Szene zu sehen.“

@ Alan Schaller / teNeues

Neben den Gestaltungselementen Licht und Schatten gibt es natürlich auch eine inhaltliche Klammer der vielen Fotos in diesem Band. Entdeckt hat er die zunächst nicht selbst, sondern 2017 ein Freund, dem er seine Bilder zeigte. Er sagte: „Was ich sehe, sind Menschen, die von der modernen Welt um sie herum verkleinert zu sein scheinen.“ Erst da sei ihm klar geworden, was er bisher selbst nicht in Worte gefasst hatte.

Nun ist „verkleinert worden zu sein“ zwar eine exakte, aber keine sehr elegante Übersetzung von „people dwarfed by the modern world“. Da denkt man eher an den – ebenfalls 2017 entstandenen – Film „Downsizing“ mit Matt Damon. Treffender wäre wohl etwas wie „Menschen, die von der modernen Welt erdrückt“ oder „zu Zwergen degradiert werden“. Überhaupt ist die Übersetzung nicht so gut gelungen; gut, dass es das Vorwort auch im Original zu lesen gibt. Etwa: „Die Nutzung der sozialen Medien hat auf vielerlei Weise dazu beigetragen, dass wir uns vernetzen, häufig jedoch auf Kosten einer verzerrten Wirklichkeit, die uns dazu zwingt, etwas darzustellen. Am Ende nehmen wir nur um so deutlicher wahr, was alle anderen um uns herum tun, und vergleichen  es mit dem, was wir tun .“ Eine ziemlich unverständliche Aussage, die sich im Original so liest: „The use of social media has in many ways helped us connect more, but often at the cost of the distortion of reality, which often forces us to portray something, so we become more aware of what everyone around us is doing in relation to what we are doing.” Etwas klarer wäre also: „Die Nutzung sozialer Medien hat uns auf verschiedene Weisen dabei geholfen, uns stärker zu vernetzen, doch häufig auf Kosten einer Verzerrung der Realität, was uns oft dazu zwingt, etwas darzustellen, wodurch wir uns mehr dessen bewusst werden, was alle um uns herum in Bezug auf das tun, was wir selbst tun.“ Nicht gerade hilfreich beim Verständnis des Textes ist übrigens die extrem magere Font-Variante – so mager, dass sie bei einem Pixel Strichbreite weniger bereits verhungert und von der Seite verschwunden wäre. Und wo ich gerade bei kritischen Anmerkungen bin: Das zu glatte und glänzende Papier erschwert nicht nur das Lesen des kurzen Vorworts, sondern wegen der unvermeidlichen Reflexionen auch den uneingeschränkten Genuss der eindrucksvollen Bilder.

@ Alan Schaller / teNeues

Ein Experiment: Welche Bilder sind original, welche KI-generiert?

Wie erwähnt sind Schallers Fotos als Street-Fotografie zwar (überwiegend?) nicht inszeniert, sondern dokumentarisch. Dennoch leben sie nicht davon, eine erkennbare Person in einer ganz bestimmten Umgebung wiederzugeben (und wo es keine Personen sind, sind es wenigstens ihre Schatten oder auch ein paar Vögel). Die Isolation des Menschen in der Metropolis ist mehr oder weniger überall dieselbe, ob nun in Schallers Heimatstadt London, in New York, Tel Aviv, Berlin oder Singapur.  

Gerade dieses Verallgemeinerbare, quasi die platonische Idee der zwergenhaften Verlorenheit des Einzelnen zwischen den großflächigen Strukturen moderner Architektur, ist nun etwas, dass sich als grobe Beschreibung ohne allzu genaue Konkretisierung recht gut fassen … und dann als Prompt für eine KI-Generierung verwenden lässt.

Genau das haben wir getan. Mein Kollege Christoph Künne hat einige der Bilder zunächst in Midjourney erfassen und in Textform beschreiben und im nächsten Schritt auf der Grundlage dieses Textes in neue Bilder umsetzen lassen. Nun stellt sich eine recht einfache Frage: Lassen sich die KI-Ergebnisse von Schallers Originalfotos unterscheiden. Exakter: Sind SIE dazu in der Lage? (Um es gleich zu sagen: Ich bezweifle erheblich, dass ich das gekonnt hätte, hätte ich es nicht von Anfang an gewusst.)

Gehen wir einmal davon aus, dass ein gewisser Teil der Betrachter – größer oder kleiner – nicht ohne weiteres in der Lage ist, alle Bilder richtig zuzuordnen. Was lässt sich dann daraus schließen? Der junge Fotograf (31, wenn die Webseite auf dem aktuellen Stand ist; dort können Sie übrigens auch einen Teil seines Portfolios anschauen) schreibt ja gleich in den ersten Zeilen seines Vorworts von der „Magie der Kunst“. Falls nun aber KI-Bilder, und seien es nur einige, dieselbe magische Wirkung hervorrufen könnten – dürfen wir sie dann ebenfalls als Kunstwerke betrachten? (Und falls ich der Einzige sein sollte, der nicht in der Lage ist, den Unterschied zu sehen: Was jetzt noch unmöglich erscheint, dürfte nach den Erfahrungen der beiden letzten Jahre in kurzer Zeit Standard sein.

Das hat erhebliche Auswirkungen für den Kunstbegriff. Na gut, dann ist es eben so und er wird angemessen erweitert – oder eben nicht, das werden die Diskussionen der Zukunft zeigen und DOCMA wird dabei ein unverzichtbares Forum sein. Aber letztlich ist das eine eher akademische Frage. Praktisch viel relevanter ist, was mit den vielen Menschen passieren wird, die als Fotografen, Illustratoren und so weiter tätig sind. Was werden die tun? Wovon werden sie leben, wenn KI ihren Job übernimmt (gewiss nicht von allen, aber schauen wir der Sache ins Auge: von sehr, sehr vielen)?

Wenn es auf das Ergebnis ankommt und nicht darauf, wie es zustande gekommen ist (und dafür sprechen gute Gründe) – wird es dann solche Bildbände noch geben? Werden Verlage Derartiges herausgeben, wenn die Werke von KI geschaffen wurden? Ich hatte mich ja vor einiger Zeit an dieser Stelle schon darüber lustig gemacht, als ich einen Bildband zu leeren Großstädten in der Corona-Krise rezensiert habe, der nur mit Stockfotos gefüllt war. Das war mir zunächst der stilistischen Uneinheitlichkeit wegen aufgefallen und erst bei einem Blick ins Impressum bestätigt worden. Bei einer KI, mit angemessenen Prompts ausgestattet, wäre ein solcher Stilmischmasch nicht zu befürchten.

Ob nun mit den Originalen verwechselbar oder nicht – wer würde einen solchen Bildband kaufen, wüsste man, wo die Bilder herkommen? Solche Werke, um ein dickes Buch zu füllen, ließen sich mühelos innerhalb von ein, zwei Tagen anfertigen. Wie Sie sehen, die Zukunft lässt viele Fragen und Antworten darauf erwarten. Der Diskussionsstoff wird uns nicht ausgehen.

Hier können Sie gleich schon einmal anfangen – original oder KI? Kleiner Hinweis: Schauen Sie sich mal den Schlagschatten der Frau an. Na? Die überraschende Lösung: Das Foto stammt aus Schallers Buch. | @ Alan Schaller / teNeues

Und gleich dürfen Sie – ja, was? Raten, einschätzen, beurteilen … Die Lösungen finden Sie hier in einer Woche.

Alle Fotos oben (und etliche weiter unten) von Alan Schaller aus dem Bildband „Metropolis“

Alan Schaller
METROPOLIS
teNeues, 2023
240 Seiten, Großformat, gebunden, ISBN ‎ 978-3961715138
85 Euro

 


 

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Doc Baumann

Doc Baumann befasst sich vor allem mit Montagen (und ihrer Kritik) sowie mit der Entlarvung von Bildfälschungen, außerdem mit digitalen grafischen und malerischen Arbeitstechniken. Der in den Medien immer wieder als „Photoshop-Papst“ Titulierte widmet sich seit 1984 der digitalen Bildbearbeitung und schreibt seit 1988 darüber.

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