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An der kurzen Leine des Algorithmus: Über die Moral in den sozialen Medien

Die Leopoldina, unsere Nationale Akademie der Wissenschaften, hat sich jüngst in einem Papier über die gesellschaftlichen Verwerfungen durch soziale Medien ausgelassen. Das ist löblich. Während die Akademiker aber noch mit spitzen Fingern die Risiken für die politische Meinungsbildung sezieren, stehen wir Bildermacher längst bis zum Hals in einem Moral-Dilemma, das weit über die Tagespolitik hinausreicht. Wir navigieren täglich in einem Spannungsfeld aus Sichtbarkeit und Selbstverrat, aus künstlerischem Anspruch und algorithmischer Anbiederung. Die Frage ist nicht mehr nur, ob ein Bild gut ist, sondern ob es auch gut ankommt. Und das ist ein feiner, aber entscheidender Unterschied.

Erinnern wir uns kurz: Früher, in der alten Welt aus Film und Fixierbad, war der Weg eines Bildes in die Öffentlichkeit klar geregelt. Es gab Mappen, Galerien, Redaktionen. Es gab Gatekeeper, die eine gewisse Qualität sicherten – oder zumindest das, was sie dafür hielten. Heute werfen wir unsere Werke auf den digitalen Flohmarkt der Eitelkeiten, den wir Timeline nennen. Dort konkurrieren sie um die knappste Ressource unserer Zeit: Aufmerksamkeit. Gemessen wird der Erfolg in Herzchen, Daumen und flüchtigen Kommentaren. Was dabei oft auf der Strecke bleibt, ist der Kontext, die Tiefe, die handwerkliche Sorgfalt. Und manchmal auch die Wahrheit.

Die neuen Spielregeln der Sichtbarkeit

Soziale Medien haben die Spielregeln für Kreative radikal verändert. Einerseits haben sie die Hürden zum Publikum pulverisiert. Der talentierte Fotograf aus der Provinz kann heute theoretisch eine Reichweite erzielen, die früher nur mit teuren Kampagnen und dem Wohlwollen einflussreicher Redakteure zu erreichen war. Diese Demokratisierung der Werkzeuge und Distributionskanäle ist ein Segen, keine Frage.

Doch dieser Segen hat einen Preis. Wir haben einen Pakt geschlossen, vielleicht ohne das Kleingedruckte gelesen zu haben. Für die Reichweite zahlen wir mit Daten, mit Einblicken in unsere Arbeitsweise und oft auch mit einem Stück unserer künstlerischen Seele. Der Algorithmus ist ein unersättlicher Gott, der nicht nach Qualität giert, sondern nach Interaktion. Er belohnt, was schnell konsumierbar ist, was gefällt, was nicht aneckt. Die Folge ist eine schleichende Uniformität. Die dramatische Landschaftsaufnahme zur goldenen Stunde wird nicht mehr gemacht, weil die Lichtstimmung den Fotografen berührt, sondern weil sie garantiert Likes generiert. Der Bildbearbeiter schraubt an den Reglern, bis die Farben schreien, nicht weil es der Aussage des Bildes dient, sondern weil es im Wust der Timeline hervorsticht. Aus Kunst wird Content, aus dem Schöpfer ein Inhaltslieferant.

Wahrheit, Währung und Verantwortung

Die Leopoldina-Studie warnt vor Fehlinformation und Manipulation. Für uns, die wir mit dem vermeintlich authentischsten Medium – dem Foto – arbeiten, ist dieser Punkt von besonderer Brisanz. Der Satz „Bilder lügen nicht“ war schon immer eine Mär, wie jeder Dunkelkammer-Magier bestätigen wird. Doch heute, wo jeder mit einer App in Sekunden Realitäten verbiegen kann, die früher stundenlange Expertenarbeit erforderten, stellt sich die Frage nach der visuellen Wahrheit mit einer neuen Dringlichkeit.

Wir leben in einer Ära der permanenten, subtilen Fälschung. KI-generierte Bilder gewinnen Fotowettbewerbe, Beauty-FilterBeauty-Filter glätten unsere Gesichter so selbstverständlich, dass wir das eigene Spiegelbild als Makel empfinden. Ein befreundeter Fotograf erzählte kürzlich, wie die Porträtaufnahme eines Politikers zurückgewiesen wurde. Nicht wegen technischer Mängel, sondern weil sie zu ehrlich war. „Mach ihn jünger, dynamischer, faltenfreier“, lautete die Anweisung. Ein alltäglicher Vorgang, der aber Teil einer Kultur der kleinen visuellen Lügen ist. Diese summieren sich zu einer neuen, geschönten Realität, die unser Verhältnis zur Wirklichkeit und unser Selbstbild nachhaltig untergräbt.

Sind soziale Posts also unethisch? Die Frage ist müßig. Ein Hammer ist auch nicht per se unethisch. Es kommt darauf an, was man damit tut: Schlägt man damit einen Nagel in Wände oder Löcher in Köpfe? Die Verantwortung liegt nicht im Werkzeug, sondern in der Absicht und im Bewusstsein für die Konsequenzen. Unsere Verantwortung als Kreative ist es, die Macht, die uns die digitalen Werkzeuge verleihen, mit Bedacht einzusetzen.

Der kreative Kompass in stürmischen Zeiten

Was also können wir aus dieser Gemengelage für unsere tägliche Arbeit ziehen? Es geht nicht darum, die sozialen Medien zu verteufeln, sondern darum, einen bewussten Umgang mit ihnen zu finden.

Erstens: Kontextbewusstsein schärfen. Jedes Bild, das wir veröffentlichen, wird Teil eines größeren Narrativs. Es existiert nicht mehr für sich allein. Wir müssen uns fragen: Welche Geschichte erzählt mein Bild im Kontext des Feeds? Welche Werte transportiert es? Unterstützt es eine oberflächliche Ästhetik oder regt es zum Nachdenken an?

Zweitens: Transparenz zur Tugend machen. Wenn Manipulation allgegenwärtig ist, kann Ehrlichkeit ein Alleinstellungsmerkmal werden. Nicht jede Bearbeitung ist eine Lüge, aber die Intention dahinter sollte klar sein. Ein offener Umgang mit den eigenen Techniken kann Vertrauen schaffen, wo die glattpolierte Perfektion Misstrauen sät.

Drittens: Langfristig denken statt kurzfristig gefallen. Soziale Medien sind auf den schnellen Kick optimiert, auf den flüchtigen Applaus. Doch wirklich gute kreative Arbeit hat eine längere Halbwertszeit. Die entscheidende Frage ist nicht: „Was funktioniert heute auf Instagram?“, sondern: „Was von meiner Arbeit wird in fünf oder zehn Jahren noch Relevanz besitzen?“

Fazit

Letztlich haben die sozialen Medien die Spielregeln verändert, nicht aber das Spiel selbst. Es geht immer noch darum, Bilder zu schaffen, die berühren, die eine Haltung zeigen, die etwas über uns und die Welt aussagen. Die größte Herausforderung für den professionellen Bildgestalter von heute ist es, den eigenen moralischen und ästhetischen Kompass nicht von den Verlockungen der Reichweiten-Metriken aus dem Kurs bringen zu lassen. Wir sind nicht nur Produzenten von Content, sondern auch die Kartografen dieser neuen digitalen Welt. Es liegt an uns, was wir daraus machen.
Munter bleiben!

Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

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2 Kommentare

    1. Das Thema sind die sozialen Medien, und die sind heutzutage durchweg digital.

      Wohlgemerkt steht „sozial“ hier für seine Grundbedeutung „auf die Gesellschaft bezogen“ und nicht für einen per se positiven Wert (wie etwa in „ein sozialer Arbeitgeber“). Soziale Medien sind Medien, mit denen sich die Mitglieder einer Gesellschaft untereinander austauschen. Schon aus Geschwindigkeitsgründen bedient man sich dazu der digitalen Technik. Man könnte sich auch wie früher Briefe schreiben, aber das passte nicht mehr zum Tempo unserer Welt.

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