Déjà-vu-Fotografie: Covern erlaubt?

Stellen Sie sich vor, Herbert von Karajan hätte nach seiner ersten Beethoven-Interpretation verkündet: „So, das war’s. Einmal gespielt, nie wieder, sonst fehlt ja die Originalität!“ Die Musikwelt wäre um unzählige geniale Interpretationen ärmer. Niemand käme auf die Idee, einem Pianisten Ideenarmut vorzuwerfen, weil er Chopins Nocturnes spielt, statt ausschließlich Eigenkompositionen zu präsentieren. Im Gegenteil: Die persönliche Handschrift, die Tiefe des Verständnisses, die neue Perspektive auf ein bekanntes Werk – all das definiert die Kunst der Interpretation.
Und in der Fotografie? Da ernten Sie für die Neuinszenierung eines bekannten Bildmotivs bestenfalls ein müdes Lächeln und den Verdacht, es mangele an eigener kreativer Potenz. Zeit, dieses Paradigma zu hinterfragen.
Die heilige Kuh der fotografischen Originalität
In kaum einer anderen Kunstform wird der Fetisch der absoluten Neuheit so zelebriert wie in der Fotografie. Während ein Regisseur für seine Shakespeare-Adaption gefeiert wird und Maler Jahrhunderte lang biblische Szenen oder mythologische Stoffe variierten, gilt in der Fotografie die unausgesprochene Regel: Wer Ideen anderer übernimmt, hat nichts Eigenes zu sagen.
Man denke nur an die Aufregung, wenn ein junger Fotograf eine Bildidee aufgreift, die vage an einen etablierten Meister erinnert. Sofort ist der Vorwurf des Epigonentums zur Hand. Doch ist diese rigide Haltung wirklich produktiv? Oder berauben wir uns damit einer spannenden künstlerischen Disziplin – der fotografischen Interpretation?
Nehmen wir plakative Beispiele: Sherrie Levine hat in den 1980ern Walker Evans’ Fotografien abfotografiert und als eigene Werke deklariert – ein radikaler Akt der Appropriation-Art, die die Konzepte von Autorschaft und Originalität fundamental infrage stellte. Das war allerdings mehr Konzeptkunst als eine liebevolle Neuinterpretation im Sinne eines Musik-Covers. Was aber, wenn ein zeitgenössischer Fotograf sich bewusst und kenntlich Andreas Gurskys „Rhein II“ vornähme und dessen minimalistische Strenge mit heutigen Mitteln und einer persönlichen Vision neu interpretierte? Oder wenn jemand als Fotografie Cover Helmut Newtons ikonische Frauenbilder nicht kopierte, sondern deren Essenz in einen aktuellen gesellschaftlichen Kontext überführte, vielleicht sogar mit einer bewussten Umkehrung der Machtverhältnisse?
Zwischen Inspiration, Hommage und juristischem Minenfeld
Die Grenzen sind fließend und nicht selten vermint. Wo hört die inspirierte Hommage auf, wo beginnt die unzulässige Kopie? Das Urheberrecht setzt hier enge Grenzen, enger oft als in der Musik, wo Coverversionen durch Lizenzmodelle klar geregelt sind. Die GEMA sorgt dafür, dass Komponisten und Texter für die Nutzung ihrer Werke entlohnt werden, egal wer sie interpretiert. Eine vergleichbare Struktur für fotografische Interpretationen existiert kaum. Dies mag einer der Gründe sein, warum die fotografische Auseinandersetzung mit bestehenden Werken oft im Verborgenen oder unter dem Deckmantel der „Inspiration“ stattfindet, selten aber als offizielle „Cover-Version“ deklariert wird.
Dabei liegt gerade in der bewussten Neuinterpretation eine enorme Chance. Sie erfordert ein tiefes Verständnis des Originals, eine Auseinandersetzung mit dessen Entstehungskontext, Technik und Aussage. Der Interpret muss eine eigene Haltung entwickeln, eine neue Facette beleuchten, vielleicht sogar eine kritische Distanz einnehmen. Es geht nicht darum, besser zu sein als das Original – ein ebenso sinnloses Unterfangen wie zu fragen, ob Joe Cockers „With a Little Help from My Friends“ besser ist als die Beatles-Version. Es geht um eine alternative Lesart, eine Erweiterung des Diskurses.
Ein weiterer Aspekt, der hier hineinspielt, ist die Rolle der technischen Entwicklung. Ansel Adams schuf seine monumentalen Landschaftsbilder mit Großformatkameras und komplexen Dunkelkammertechniken. Wie würde eine „Ansel Adams Interpretation“ heute aussehen, realisiert mit Drohnenfotografie und ausgefeilter digitaler Nachbearbeitung, vielleicht sogar unter Einbeziehung von KI-gestützten Werkzeugen zur Detailoptimierung oder Stilisierung? Könnte eine KI, trainiert auf das Gesamtwerk von Henri Cartier-Bresson, lernen, den „entscheidenden Augenblick“ in zeitgenössischen Szenen zu identifizieren und visuell im Stil des Meisters umzusetzen? Das wäre keine menschliche Interpretation, aber ein faszinierendes Experiment an der Schnittstelle von Tradition und Technologie.
Mehrwert durch Meta-Ebene: Die Fotografie im Dialog mit sich selbst
Die Etablierung einer Kultur der fotografischen Interpretation könnte die Szene ungemein bereichern. Sie würde jungen Fotografen erlauben, von den Meistern zu lernen, indem sie deren Werke nicht nur studieren, sondern aktiv neu gestalten. Sie würde den Diskurs über Fotografiegeschichte lebendig halten und immer wieder neue Bezüge zur Gegenwart herstellen. Stellen Sie sich vor, es gäbe Wettbewerbe oder Ausstellungen, die sich explizit der fotografischen Neuinterpretation widmen. Man könnte erleben, wie zehn verschiedene Fotografen beispielsweise eine berühmte Arbeit von August Sander oder Diane Arbus ins 21. Jahrhundert übersetzen.
Die Angst, als Kopist abgestempelt zu werden, ist ein Hemmschuh. Doch wer ein Musikstück covert, erhebt ja auch nicht den Anspruch, der Urheber der Melodie zu sein. Es geht um die Performance, die individuelle Note, die künstlerische Aneignung. Warum sollte das in der Fotografie anders sein? Vielleicht müssen wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass jedes Bild ein singulärer, aus dem Nichts geschaffener Geniestreich sein muss. Die Fotografie, wie jede Kunst, ist immer auch ein Dialog mit dem, was vor ihr war.