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Wir KI-Detektive: Vom Generalverdacht und der neuen Freiheit im digitalen Atelier

Wo einst das geschulte Auge des Kenners genügte, um ein mangelhaftes Composing oder eine retuschierte Fotografie zu entlarven, herrscht heute eine neue, fast schon absurde Form der Bildforensik. Ein fehlerhafter Schattenwurf, unstimmige Lichtkanten, eine unsaubere Maskierung – das waren die Indizien von gestern, die den Profi vom Amateur unterschieden. Heute gehören diese handwerklichen Urteile bald zum alten Eisen, denn der neue Gegner ist die Perfektion. Eine Perfektion, die nicht zwangsläufig aus Können, sondern aus schierer Rechenleistung entsteht. Wir alle blicken auf Bilder und fragen uns: Ist das eine brillante Lichtsetzung oder nur ein clever formulierter Prompt? Handelt es sich um ein meisterhaftes Composing oder das Werk einer KI, die von einer anderen KI gelernt hat, wie man uns täuscht?

Willkommen in der Ära der unfreiwilligen KI-Detektive – unsichtbaren Ermittlern, die Ihnen permanent über die Schulter blicken. Ein Berufsbild, das niemand wollte und das nun doch alle ausüben, die sich professionell mit visuellen Medien befassen.

Das vollmundige Versprechen unendlicher kreativer Möglichkeiten, das die KI uns einst gab, verkehrt sich in sein Gegenteil: in einen Generalverdacht. Die Composing-Künstler, die Jahre in die Entwicklung ihres unverkennbaren Stils aus Licht, Schatten und Textur investiert haben, stehen nun in der Beweispflicht. Sie müssen nachweisen, dass die geniale Bildstimmung nicht per Befehl herbeizitiert wurde. Die Technik, die als ultimatives Werkzeug zur Befreiung antrat, wird zum Instrument der Inquisition. Die offengelegte Photoshop-Datei mit ihren hunderten von Ebenen, Masken und Einstellungsebenen wird zum Alibi für die geleistete Arbeit – der Schöpfer wird zum Buchhalter seiner eigenen Kreativität – und sei es nur um seine Urheberschaft gerichtsfest zu dokumentieren.

Jedes zu perfekte Composing wird suspekt. Jede brillante Idee könnte unbewusst von einer KI-Ästhetik inspiriert sein, die man im steten Bilderstrom der sozialen Medien aufgesogen hat. Die Furcht, als Blender entlarvt zu werden, kann den Schaffensprozess lähmen. Kreative beginnen, ihre eigene Arbeit zu zensieren, sie absichtlich ein wenig unperfekter zu gestalten, nur um ihre Menschlichkeit zu beweisen. Ein absurder Akt der Selbstsabotage aus Angst vor dem KI-Inspektor.

Die Ästhetik der Überwachung

Doch in diesem Zwang zur Transparenz keimt paradoxerweise eine neue, fast schon subversive Freiheit. Denn wer weiß, dass sein Werk unter Generalverdacht steht und möglicherweise maschinell seziert wird, kann den Spieß umdrehen. Die Detektions-Software wird dann selbst zum Thema. Es entstehen hybride Techniken, die Mensch und Maschine bewusst ununterscheidbar verschmelzen lassen; Bilder, die gezielt an der Schwelle zur Entdeckbarkeit balancieren und die Frage nach „echt“ oder „synthetisch“ zur Pointe erheben. Die Überwachung zu ästhetisieren könnte zur Kunstform werden; das Kontrollinstrument zum gestalterischen Material. Plötzlich ist nicht mehr nur das finale Bild das Werk, sondern auch das intelligente Spiel mit seiner möglichen Herkunft.

Dieser dialektische Prozess ist nicht neu. Photoshop selbst sollte einst das Ende der „ehrlichen“ Fotografie besiegeln und schuf stattdessen eine völlig neue visuelle Sprache, die Bildwelten ermöglichte, die vorher undenkbar waren. Nun scheint die KI die menschliche Kreativität selbst anzugreifen und zwingt uns dadurch, deren Wert und Wesen fundamental neu zu verhandeln. Es geht nicht mehr nur darum, was wir zeigen, sondern wie und warum wir es tun.

Gleichzeitig etabliert der KI-Inspektor eine neue Taxonomie des Schaffens. Er schafft mit seinen Werkzeugen eine neue Hierarchie: Ganz oben steht vielleicht der reine Handwerker, der nachweislich ohne KI arbeitet. Darunter rangiert der „KI-assistierte“ Künstler, der die Technik als erweiterten Pinsel nutzt. Und am unteren Ende der Skala steht der reine „KI-Operator“, der nur noch Befehle eintippt. Eine neue Klassengesellschaft der Digital-Kreativen zeichnet sich ab, die nicht mehr primär nach Stil oder Inhalt urteilt, sondern nach dem Grad der nachweisbaren menschlichen Anstrengung.

Wer urteilt über die Kreativität?

Wir alle sind längst zu KI-Detektiven im Alltag geworden. Wir scannen Bilder in sozialen Netzwerken und suchen nach den verräterischen Artefakten: die zu glatte Haut, die Finger mit sechs Gliedern, die unnatürlich perfekte Symmetrie. Wir entwickeln ein gesundes Misstrauen gegenüber dem Makellosen, eine neue Medienkompetenz für das Zeitalter der synthetischen Realität.

Am Ende aber, während wir die Spuren im digitalen Sand sichern, drängt sich die entscheidende Frage auf: Ist ein Composing weniger wert, wenn es uns emotional berührt, seine Herkunft aber unklar ist? Und wer hat am Ende das Sagen über den Wert von Kreativität: Sie als Produzenten, Ihr Publikum – oder der Algorithmus, den wir zu unserer eigenen Überwachung schufen?

Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

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