H&Ms digitale Zwillinge: Wenn Mode-Avatare die Catwalk-Konkurrenz aufmischen

In einer Branche, die von Glamour und physischer Präsenz lebt, experimentiert H&M mit digitalen Doppelgängern. Während andere Modekonzerne bereits auf die Nase gefallen sind, setzt der schwedische Gigant auf Transparenz und Partnerschaft mit echten Models. Eine Revolution mit Samthandschuhen?
Wenn man den Beginn einer Revolution ankündigt, erwartet man üblicherweise einen großen Knall, dramatische Bilder oder zumindest einen mitreißenden Slogan. H&M hingegen wählte für seine jüngste KI-Innovation den sanften Weg: digitale Zwillinge realer Models, die künftig in Marketingkampagnen, sozialen Medien und Produktbildern auftauchen sollen – als Ergänzung, nicht als Ersatz.
Wie bitte? Eine Revolution, die niemanden verdrängen will? Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein.

Die zweite Haut der Mode
Modebilder waren schon immer Fiktionen, lange bevor der erste Algorithmus ein Pixel berührte. Retuschen, die jegliches Hautfältchen tilgten, Composings, die unmögliche Posen ermöglichten, und stark nachbearbeitete Aufnahmen, die mehr Traum als Realität zeigten – die Modefotografie war nie ein dokumentarisches Medium. Die Grenze zwischen Abbild und Kunstwerk verschwamm seit den 1980ern zunehmend, als Fotografen wie Helmut Newton oder später David LaChapelle ihre fantasievollen Inszenierungen schufen. Was H&M jetzt macht, ist letztlich nur die konsequente Weiterentwicklung dieser Tradition mit neuen technischen Mitteln.
Der Unterschied: Während früher die Fiktion erst nach dem Klick entstand, beginnt sie heute schon vor der imaginären Kamera. Statt eines aufwendigen Shootings in Kapstadt mit eingeflogenen Models, Stylisten und Bergen von Requisiten genügt nun ein Datensatz mit Bildern der Models aus verschiedenen Winkeln. Der Rest ist digitale Magie durch spezialisierte KI-Dienstleister. Die Modelagentur der Zukunft könnte so aussehen wie ein Serverraum – klimatisiert, effizient und stromhungrig.

Digitale Ethik im Kleiderschrank
H&M scheint klug genug, um aus den Fehlern anderer zu lernen. Als vor einiger Zeit ein bekannter Hersteller von Freizeitkleidung ankündigte, KI-generierte Models für mehr Diversität einzusetzen, hagelte es Kritik. Der Vorwurf: „Diversity Washing“ – statt echte Menschen unterschiedlicher Hautfarben, Körperformen und Altersgruppen zu engagieren, erschuf man sie einfach digital. Billiger, schneller, kontrollierter. Die PR-Abteilungen mussten Überstunden schieben, um klarzustellen, dass man keinesfalls echte Models ersetzen wolle.
H&M geht, so die offizielle Verlautbarung, einen anderen Weg: Die digitalen Zwillinge basieren auf echten Models, die volle Kontrolle und Eigentumsrechte an ihren digitalen Ebenbildern behalten sollen. Sie könnten ihre Pixel-Doppelgänger sogar für andere Markenkooperationen einsetzen. Ein Modell, das fast nach fairer Partnerschaft klingt – oder nach brillantem Marketing-Kalkül, um der unvermeidlichen Kritik zuvorzukommen.
Die angekündigten Wasserzeichen auf den KI-Bildern erinnern an die Versuche der Musikindustrie in den frühen 2000ern, die Kontrolle über ihre digitalen Assets zu behalten. Wir wissen alle, wie das ausgegangen ist. Aber zumindest signalisiert H&M damit ein Bewusstsein für Transparenz in Zeiten, in denen die Unterscheidung zwischen echt und künstlich immer schwieriger wird.
Die unsichtbaren Hände der Mode
Die eigentliche Disruption spielt sich jedoch hinter den Kulissen ab. Während wir über das Schicksal der Models diskutieren, verändert sich die gesamte Produktionskette. Ein traditionelles Fashion-Shooting verschlingt schnell fünfstellige Summen – für Fotografen, Stylisten, Location, Make-up, Models und Catering. Die KI-Alternative? Oft nur ein Bruchteil davon, abgerechnet in günstigen Monatsabonnements. Selbst ein karges Budget-Setup ist im Vergleich dazu ein Luxus.
Wenn wir ehrlich sind, geht es nicht nur um eine Handvoll Models, sondern um Tausende Arbeitsplätze in der kreativen Produktionskette: Fotografen, Visagisten, die Gesichter schminken, die später vielleicht nie vor einer echten Kamera erscheinen, und Stylisten, die Kleidung an Körpern drapieren, die möglicherweise nur in der digitalen Dimension existieren.
Die Ironie dabei: Während die Modelbranche einen Diskurs über ethische Arbeitsbedingungen und Body Positivity führt, könnte ausgerechnet die als nachhaltig und ethisch geltende Digitalisierung zum Job-Killer werden. Die schöne neue Modewelt erschafft nämlich nicht nur digitale Models, sondern potenziell auch digitale Arbeitslose.
Der Avatar-Imperativ
Andere große Modeketten haben bereits gezeigt, wohin die Reise geht. Vollständig synthetisch generierte Kampagnen liefen parallel zu vermeldeten Rekordumsätzen. Zufall? Vielleicht. Aber die Effizienzgewinne sind nicht zu leugnen.
Was uns zu einer beunruhigenden Frage führt: Sind wir bereit für eine Modewelt, in der perfekte Körper, makellose Haut und ideale Proportionen nicht mehr das Ergebnis von Retusche sind, sondern von vornherein als digitale Idealvorstellungen existieren? Die existenzielle Angst des Models war immer: „Bin ich schön genug?“ In Zukunft könnte sie lauten: „Bin ich überhaupt noch nötig?“
Die Dialektik der KI-Mode erschafft gleichzeitig mehr Diversität (theoretisch können unendlich viele Körperformen und Typen dargestellt werden) und weniger Authentizität. Es ist, als würden wir einem Gemälde applaudieren, weil es fotorealistischer aussieht als ein Foto – während wir vergessen, dass der Wert der Fotografie gerade in ihrer Verbindung zur physischen Realität lag.
Die Demokratisierung des Blicks
Dennoch wäre es zu einfach, nur die drohenden Job-Verluste zu beklagen. Die Geschichte der visuellen Kultur ist eine Geschichte der Demokratisierung. Von der höfischen Porträtmalerei über die Daguerreotypie bis zum Smartphone-Selfie wurden Bilder immer zugänglicher, billiger und massentauglicher. KI-Models sind nur der nächste logische Schritt.
Was passiert, wenn nicht nur H&M, sondern jedes kleine Label, jeder Etsy-Shop, jeder Instagram-Boutique-Besitzer Zugang zu professionell aussehenden Kampagnen hat? Wenn die visuelle Qualität kein Privileg der Großen mehr ist? Vielleicht erleben wir eine Explosion kreativer Vielfalt. Vielleicht aber auch eine Flut austauschbarer Bildwelten, die sich gegenseitig in ihrer Bedeutungslosigkeit übertreffen.
Die Frage ist nicht mehr, ob KI die Modefotografie verändert – das tut sie bereits. Die Frage ist, ob wir ein neues Verständnis davon entwickeln, was Authentizität und Kreativität in einer post-fotografischen Ära bedeuten. Vielleicht liegt die Zukunft in einer bewussten Mischung aus digitaler Perfektion und menschlicher Unvollkommenheit – ähnlich wie Vinyl-Schallplatten mit ihrem warmen, imperfekten Klang einen Gegenpol zur sterilen Perfektion digitaler Musik bilden.
H&Ms KI-Models sind weder Heilsbringer noch Weltuntergang – sie sind ein Symptom einer visuellen Kultur im Umbruch. Eine Kultur, in der die Grenzen zwischen echt und künstlich, zwischen Abbild und Erfindung, immer durchlässiger werden. In dieser schönen neuen Bilderwelt müssen wir neue Maßstäbe für Authentizität, Kreativität und Wahrhaftigkeit finden – oder uns damit abfinden, dass diese Konzepte selbst zu nostalgischen Relikten einer vor-digitalen Ära werden.
H&M gibt vor, dass ihre digitalen Zwillinge die Fotografie nicht ersetzen werden. Das mag für den Moment stimmen. Aber wie bei jeder technologischen Revolution geht es nicht um die ersten vorsichtigen Schritte – sondern um die langfristigen Auswirkungen, wenn die Technologie ausgereift, billiger und allgegenwärtig ist. Dann werden wir uns vielleicht nostalgisch an die Zeit erinnern, als Models noch aus Fleisch und Blut waren und Modefotografen mehr taten, als Datensätze zu kuratieren.
Oder aber, wir entdecken neue Formen visueller Ausdruckskraft, die wir uns heute noch nicht vorstellen können – genau wie sich die ersten Daguerreotypie-Pioniere wohl kaum die Instagram-Stories von heute hätten ausmalen können. Die Zukunft der Modefotografie hat gerade erst begonnen, sich zu entfalten. Ob mit oder ohne Menschen vor der Kamera.






Meine Zukunftsvision: Man erstellt beim online Bestellen ein Model mit Körpermaßen von sich selbst, und sieht sofort, was einem an Kleidung passt und steht.