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Die vermessene Seele: Was ein radikales Social-Media-Experiment über die Zukunft der Kreativität verrät

Wer professionell mit Bildern arbeitet, kennt das ungeschriebene Gesetz der Gegenwart: Was nicht auf Instagram, Facebook oder anderen Plattformen stattfindet, existiert für einen Großteil der Welt nicht. Wir optimieren für den Social-Media-Algorithmus, jagen dem Engagement hinterher und komponieren unsere Bilder für den flüchtigen Blick im endlosen Feed. Doch was, wenn das Fundament dieses Systems, die ständige Konnektivität, auf einem psychologischen Trugschluss beruht? Eine wegweisende Studie der Stanford University liefert ein Störgeräusch in der perfekt orchestrierten Symphonie der sozialen Medien – und zwingt uns, die Beziehung zwischen Bild, Betrachter und Plattform radikal neu zu denken.

Das Experiment: Ein Monat ohne Echo

Die Forscher Hunt Allcott, Luca Braghieri, Sarah Eichmeyer und Matthew Gentzkow initiierten ein ebenso simples wie entlarvendes Experiment. Sie bezahlten eine Gruppe von rund 35.000 US-Bürgern dafür, ihre Facebook-Konten für die vier Wochen vor den US-Zwischenwahlen 2018 zu deaktivieren. Eine Kontrollgruppe nutzte die Plattform wie gewohnt weiter. Die Wissenschaftler wollten nicht weniger als den Netto-Effekt von Social Media auf das individuelle und gesellschaftliche Leben vermessen. Die Ergebnisse sind für jeden Kreativschaffenden von immenser Bedeutung.

Die Probanden der „Detox-Gruppe“ verbrachten nach der Deaktivierung signifikant mehr Zeit mit Freunden und Familie und sahen mehr fern. Wenig überraschend sank ihr Wissen über tagesaktuelle Nachrichten. Doch die entscheidenden Messwerte lagen woanders: Die politische Polarisierung nahm spürbar ab. Und, was noch fundamentaler ist, das subjektive Wohlbefinden der Teilnehmer verbesserte sich deutlich. Die Forscher registrierten einen signifikanten Rückgang bei Angstzuständen und depressiven Symptomen sowie einen Anstieg der selbstberichteten Lebenszufriedenheit und des Glücksgefühls. Facebook abzuschalten machte die Menschen also nicht nur weniger politisch aufgeladen, sondern auch nachweislich glücklicher.

Das Paradox des Kreativschaffenden

Hier offenbart sich ein tiefgreifendes Dilemma für jeden Fotografen, Bildbearbeiter und visuellen Künstler. Die Plattformen, die für unsere Sichtbarkeit und oft auch für unser Einkommen unerlässlich sind, scheinen für die mentale Verfassung unserer Zielgruppe – und mutmaßlich auch für unsere eigene – toxisch zu sein. Wir investieren Stunden in die Perfektionierung eines Bildes, in Farbkorrektur, Retusche und Komposition, um es dann in eine Umgebung zu entlassen, die beim Betrachter nachweislich Stress und Unzufriedenheit fördern kann.

Die Frage, die sich daraus ergibt, ist fundamental: Für wen optimieren wir unsere Bilder? Für einen Algorithmus, der auf emotionale Reize, auf Zuspitzung und auf sofortige, oft oberflächliche Reaktionen anspringt? Oder für einen Menschen, der sich, wie die Studie nahelegt, im Grunde nach einer Pause von genau diesen Reizen sehnt? Wir befinden uns in einem ständigen emotionalen Rüstungswettlauf, bei dem das lauteste, bunteste oder provokanteste Bild die größte Chance auf Aufmerksamkeit hat. Doch die Stanford-Studie legt den Verdacht nahe, dass wir damit womöglich an den eigentlichen Bedürfnissen des Publikums vorbeiproduzieren. Wir servieren einer übersättigten Gesellschaft den nächsten Zuckerschock, während sie sich eigentlich nach nahrhafter Kost sehnt.

Die Ästhetik der Stille

Was bedeutet diese Erkenntnis für unsere gestalterische Praxis? Sie könnte der Anstoß für eine Gegenbewegung sein, für eine Ästhetik der Stille. Wenn das Ziel nicht mehr nur der schnelle Like oder der virale Share ist, sondern eine tiefere, nachhaltigere Verbindung zum Betrachter, dann müssen sich auch unsere visuellen Strategien ändern. Vielleicht liegt die Zukunft nicht in der weiteren Perfektionierung der Reizüberflutung, sondern in der bewussten Reduktion. In Bildern, die nicht schreien, sondern flüstern. Bilder, die dem Auge und dem Geist eine Pause gönnen, anstatt sie weiter zu attackieren.

Dies ist keine romantische Verklärung, sondern eine strategische Überlegung. Ein Publikum, das die negativen Effekte der permanenten Berieselung zu spüren beginnt, wird empfänglicher für Inhalte, die Ruhe, Konzentration und Authentizität ausstrahlen. Die Kernkompetenzen eines exzellenten Fotografen – das meisterhafte Spiel mit Licht und Schatten, eine durchdachte Komposition, subtiles Storytelling – könnten in einem solchen Umfeld wieder an Wert gewinnen. Es wäre eine Rückbesinnung auf die handwerkliche und intellektuelle Qualität, die über den kurzfristigen Trend erhaben ist.

Die Studie ist somit kein Todesurteil für Social Media als Distributionskanal. Sie ist vielmehr ein Kalibrierungswerkzeug für unseren eigenen kreativen Kompass. Sie erinnert uns daran, dass hinter jedem User-Profil ein Mensch mit komplexen emotionalen Bedürfnissen steht. Die erfolgreichsten Kreativen der Zukunft könnten jene sein, die es verstehen, Oasen der Ruhe im digitalen Sturm zu schaffen und eine visuelle Sprache zu entwickeln, die nicht nur gesehen, sondern auch gefühlt werden will – und zwar auf eine Weise, die bereichert, statt auszulaugen.

Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

Kommentar

  1. Soziale Medien sind auf reißerische Reels optimiert, um Abhängigkeit zu erzeugen; wer diese nicht produziert, gewinnt kaum Follower. Einfache Bilder reichen nicht mehr. Positiv ist, dass YouTube KI-generierte Videos bald nicht mehr monetarisieren wird.

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