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Italian Brainrot: Viraler KI-Nonsens als Spiegel digitaler Bildkultur

Aus den Untiefen des italienischen TikTok schwappt unter dem Label „Italian Brainrot“ eine Welle heran, die das Potenzial birgt, bisherige Vorstellungen von viralem Nonsens neu zu justieren. Was auf den ersten flüchtigen Blick wie harmloser, wenn auch bizarrer Zeitvertreib anmutet, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als ein komplexes Amalgam aus KI-geprägter Ästhetik, rasantem, kollektivem Storytelling und unerwartet problematischen Untertönen. Für Kreative im visuellen Bereich, bietet dieses Phänomen weit mehr als nur Anlass zum Kopfschütteln; es ist eine aufschlussreiche Fallstudie über die Macht, die Eigendynamik und die Fallstricke aktueller Bildtechnologien und ihrer digitalen Verbreitungsmechanismen.

Vom Schlagwort zur Zeitdiagnose?

Der Begriff „Brainrot“ (Gehirnfäule) selbst ist keine neue Wortschöpfung, erlebte jedoch Ende 2024 eine bemerkenswerte Renaissance, als ihn das Oxford English Dictionary zum Wort des Jahres kürte. Definiert wird er dort als „die vermeintliche Verschlechterung des geistigen oder intellektuellen Zustands einer Person, insbesondere als Folge des übermäßigen Konsums von (heute vor allem Online-)Inhalten, die als trivial oder wenig herausfordernd gelten“. Die signifikant gestiegene Nutzung des Begriffs spiegelt die Wahrnehmung einer Flut oft lauter, chaotischer, niedrigschwellig produzierter und schnell konsumierbarer Inhalte wider. Diese gedeihen prächtig auf Plattformen wie TikTok und Instagram, die eine junge Nutzerschaft adressieren und maßgeblich von der Ökonomie knapper Aufmerksamkeit leben. „Brainrot“-Inhalte fordern diese Aufmerksamkeitsspanne bis zum Äußersten, oft durch pure Reizüberflutung und inhaltliche Leere. Es gibt inzwischen sogar ein Brainrot-Wiki.

Das Panoptikum des Absurden

Der „Italian Brainrot“-Trend nahm seinen Anfang mit einem viralen Video eines italienischen TikTok-Nutzers. Im Zentrum stand eine mittels KI zum Leben erweckte Figur: ein blauer Hai namens Trallalerò trallala, ausgestattet mit auffälligen Nike-Schuhen. Dieser Hai war jedoch nur der Vorreiter. Rasch bevölkerte eine ganze Menagerie ähnlich skurriler Gestalten dieses neu entstehende Universum: Da wäre Trippi Troppi Troppa Trippa, eine Art Forelle mit haarigen Armen und menschlichem Oberkörper, die als König der Meere fungiert; Brr Brr Patapim, eine Kreuzung aus menschlichen Füßen, dem Gesicht eines Nasenaffen und Beinen aus Wurzelgeflecht; oder Ballerina Cappuccina, eine Balletttänzerin, deren Kopf durch eine Kaffeetasse ersetzt wurde.

Diese Figuren, ursprünglich mehrheitlich im italienischen digitalen Raum entstanden, fanden schnell internationale Nachahmer und wurden adaptiert. Kreative in anderen Ländern begannen, eigene Charaktere zu entwickeln, wie etwa Tung Tung Tung Sahur aus Indonesien und Malaysia – eine anthropomorphe Holzfigur mit Schläger, die mit einem traditionellen Weckruf zum Ramadan assoziiert wird. Das Besondere an diesem Phänomen ist jedoch nicht nur die schiere Existenz dieser Figuren. Um sie herum entspinnt sich eine Art kollektiv fortgeschriebene Mythologie mit eigenen, wenn auch absurden, Handlungssträngen. Ballerina Cappuccina beispielsweise durchlebt eine komplexe Beziehungsgeschichte: Sie ist die Schwester von Espressona Signora, verliebt sich in den Tänzer Lololo, wird jedoch vom Ninja Cappuccino Assassino entführt, verliebt sich dann in ihren Entführer, nur um diesen später mit Trallalerò trallala zu betrügen.

Diese narrativen Fäden, so bizarr sie klingen mögen, verleihen dem Phänomen eine seltsam kohärente Binnenstruktur. Entscheidend für Profis aus dem visuellen Bereich: Die Ästhetik dieser Welt ist maßgeblich durch KI-Bildgeneratoren geprägt. Diese Werkzeuge ermöglichen die schnelle und unkomplizierte Hervorbringung der surrealen Charaktere und ihrer Variationen, was die virale Verbreitung und den kollaborativen Charakter befeuert.

Wenn für einige der Spaß aufhört: Kontroverse und Kommerzialisierung

Die rasant fortschreitende globale Verbreitung dieser Inhalte führte unweigerlich dazu, dass auch die problematischen Aspekte des Ursprungsmaterials einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurden. Insbesondere die im initialen Trallalerò-Reim enthaltene, wenig respektvolle Behandlung religiöser Figuren sorgte für erhebliche Kontroversen. Während viele Nutzer die Videos anfangs teilten, ohne die italienischen Texte zu verstehen, und sie als reinen Nonsens abtaten, meldeten sich bald kritische Stimmen, insbesondere aus muslimischen Gemeinschaften, die den Inhalt als inakzeptabel und verletzend brandmarkten. Die Debatte verlagerte sich auf Plattformen wie Reddit, wo intensiv über die Intention hinter den Inhalten diskutiert wurde – handelte es sich um eine in Italien möglicherweise verbreitete, flapsige Form der Gotteslästerung oder um gezielte Provokation und Herabwürdigung?

Die Kontroverse verschärfte sich mit dem Auftauchen weiterer fragwürdiger Figuren wie Bombardiro Crocodilo, einem fliegenden Alligator, dessen kolportierte Hintergrundgeschichte ihn als nicht-gläubig und Kinder in Gaza bombardierend beschrieb. Auch aus christlichen Kreisen wurde Kritik laut. Diese Entwicklungen zeigen exemplarisch, wie schnell spielerisch-absurde Inhalte, insbesondere wenn sie sensible kulturelle oder religiöse Kontexte berühren, in für unerwartete kulturelle Diskurse sorgen können. Diese Dynamik wird durch die einfache und schnelle Produzierbarkeit mittels KI potenziell beschleunigt und schwer kontrollierbar.

Wenig überraschend hat die hohe Sichtbarkeit des Trends auch kommerzielle Akteure auf den Plan gerufen. Marken wie Ryanair, das Modelabel Loewe oder der Fußballverein AC Mailand versuchten, die Popularität der Figuren für eigene Werbezwecke zu nutzen. Ryanair beispielsweise platzierte Abbildungen von Tung Tung Sahur, Trallalero Trallalà und Ballerina Cappuccina auf digitalen Flugzeug-Renderings – und sah sich prompt heftiger Kritik aus der Community ausgesetzt. Nutzer wiesen auf den beleidigenden Charakter der Ursprungsinhalte hin und forderten die Airline auf, die Kampagne einzustellen. Dies illustriert prägnant die Gefahr für Marken, virale Phänomene oberflächlich zu adaptieren, ohne deren Ursprung, Kontext und potenzielle Fallstricke vollständig zu durchdringen.

Lektionen aus dem digitalen Kuriositätenkabinett

„Italian Brainrot“ ist somit weit mehr als nur der nächste flüchtige Internettrend oder ein weiteres Beispiel für bizarren Humor. Es fungiert als Brennglas für die Herausforderungen digitaler visueller Kultur. Das Phänomen demonstriert eindrücklich die enorme Geschwindigkeit und die globale Reichweite, die KI-gestützte Bildwelten heute innerhalb kürzester Zeit entfalten können. Gleichzeitig legt es schonungslos die potenziellen Schattenseiten dieser Entwicklung offen: die latente Gefahr der einfachen Produktion und unkontrollierten Verbreitung kontroverser oder politischnaufgeladener Inhalte, die zunehmende Komplexität kultureller Kontexte im globalisierten Netz und die nicht zu unterschätzenden Risiken einer unkritischen kommerziellen Vereinnahmung solcher Trends.

Für Kreative, die sich professionell mit digitalen Werkzeugen und Plattformen auseinandersetzen, bietet das Phänomen „Italian Brainrot“ wertvolle, wenn auch teils beunruhigende Einblicke in die Mechanismen, Chancen und Gefahren der gegenwärtigen Bildproduktion und -distribution. Die vordergründige Absurdität und die oft kindlich anmutende Ästhetik solcher Trends sdolltern nicht den Blick auf die dahinterliegenden technologischen, kulturellen und ethischen Implikationen verstellen. Die Frage, wie wir als Bildproduzenten mit dieser neuen Flut an KI-geprägten Inhalten umgehen, wird uns in Zukunft noch intensiv beschäftigen.

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Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

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