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Fenster in eine verborgene Welt: Postkarten aus Pjöngjang

In einer der isoliertesten Hauptstädte der Welt scheinen fotografische Einblicke zu entstehen, die zwischen staatlich inszenierter Fassade und persönlichen Momentaufnahmen changieren. Doch „Postcards from Pyongyang“ ist kein dokumentarisches Fenster, sondern ein kunstvolles Trugbild – ein fiktives Archiv, das durch künstliche Intelligenz erschaffen wurde und dennoch emotional wahr anfühlt.

Die Vorstellung von Postkarten aus Nordkorea klingt zunächst wie ein Widerspruch in sich. Ein Land, das seine Grenzen und Informationsflüsse streng kontrolliert, verbunden mit einem Medium, das traditionell Ferienerinnerungen und Grüße in alle Welt trägt. Genau in diesem Spannungsfeld bewegt sich das Online-Projekt „Postcards from Pyongyang“. Allerdings mit einer entscheidenden Wendung: Was auf den ersten Blick als fotografische Dokumentation erscheint, entpuppt sich als kunstvolles Werk der Fiktion – erschaffen nicht mit der Kamera, sondern mit künstlicher Intelligenz.

Hinter dem Projekt steht der Stuttgarter Kreativdirektor Stephen Obermeier, der mit über 30 Jahren Erfahrung an der Schnittstelle von Medien, Design und digitaler Kultur arbeitet. Sein Ansatz ist geprägt vom tiefen Interesse am poetischen Potenzial von Bildern und der strukturellen Klarheit von Erzählungen. Er paart dies mit einer Faszination für neue Technologien und deren Fähigkeit, unerwartete Verbindungen herzustellen.

Anders als klassische Fotoreportagen über Nordkorea, die oft das Bizarre und Fremdartige betonen, nähert sich dieses digitale Archiv seinem Gegenstand mit einem Blick für die Nuancen des Alltäglichen. Die Bilder schwanken zwischen staatlich anmutenden Motiven und Schnappschüssen aus dem Augenwinkel. Monumentalarchitektur steht neben flüchtigen Straßenszenen, das Heroische neben dem Banalen. Es ist diese Kombination, die dem Betrachter ein vielschichtigeres Bild vermittelt – auch wenn dieses Bild vollständig im Reich der Imagination existiert.

Die KI-generierten Motive wirken oft wie aus der Zeit gefallen. Farbpaletten und Bildästhetik erinnern an fotografische Aufnahmen aus den 1970er Jahren, obwohl sie in unserer Gegenwart entstanden sind. Diese visuelle Zeitverschiebung ist kein Zufall: Sie spiegelt unsere kollektiven Vorstellungen von Nordkorea wider, einem Land, das in unserer westlichen Wahrnehmung wie in einer Parallelzeit existiert. Das Projekt bedient sich dieser Wahrnehmung bewusst, um einen emotionalen Resonanzraum zu schaffen.

Obermeiers Konzept ist nicht darauf ausgerichtet, Nordkorea zu erklären, wie es ist, sondern den Wunsch nach Orten zu erkunden, die sich der Sichtbarkeit entziehen. In Zeiten allumfassender digitaler Transparenz und Googlebarkeit besitzt diese Idee einen fast nostalgischen Charme – sie erinnert an eine Ära, als Entdeckung noch mit Nichtwissen verbunden war und Geschichten dort begannen, wo Gewissheit endete.

Was die Bilder nicht direkt zeigen können, aber in ihrer Konzeption verankert ist: Jede „Postkarte“ ist Teil eines fiktiven Narrativs, das von erfundenen Charakteren und deren Geschichten getragen wird. Die künstliche Intelligenz dient hierbei nicht nur als Bildgenerator, sondern auch als Schreibassistenz und Stimme dieser imaginären Personen. Doch trotz des umfassenden KI-Einsatzes betont Obermeier, dass nicht der Algorithmus der Autor ist – vielmehr fungiert die KI als reagierender und fragender Gegenspieler, während das menschliche Konzept, Intuition und Geduld den kreativen Prozess leiten.

Wenn die Grenzen zwischen Authentizität und Inszenierung, zwischen dokumentarischer Wahrheit und künstlerischer Fiktion zunehmend verschwimmen, stellt „Postcards from Pyongyang“ eine bemerkenswerte Metamedialität zur Schau. Das Projekt spielt mit unseren Erwartungen an Fotografie als Medium der Wirklichkeitsabbildung und führt uns gleichzeitig vor Augen, wie leicht wir bereit sind, etwas als real anzunehmen, nur weil es fotografisch wirkt.

Der Betrachter wird unweigerlich zum Detektiv und Philosophen zugleich. Was ist inszeniert? Was könnte authentisch sein? Wo beginnt die Fiktion und wo endet sie? Die Bilder verführen zur Spurensuche nach dem Unerwarteten: Ein Lächeln abseits des offiziellen Anlasses, ein modisches Accessoire, das nicht ins Klischee passt, Architekturfragmente, die vom Verfall der großen Visionen zeugen. Es ist dieses Spiel mit dem Sichtbaren und dem Verborgenen, das die Faszination des Projekts ausmacht – selbst wenn wir nun wissen, dass alles Fiktion ist.

Das Format der digitalen Postkarte ist dabei mehr als nur ein nostalgischer Verweis. Es markiert präzise die Ambivalenz dieser Bilder: Postkarten waren schon immer gleichzeitig persönliches Souvenir und standardisierte Darstellung, intimes Kommunikationsmittel und öffentlich einsehbare Botschaft. Sie zeigen, was gesehen werden darf, und erzählen dennoch zwischen den Zeilen oft andere Geschichten. Diese Mehrdeutigkeit überträgt Obermeier auf sein Projekt, das bewusst mit Ambiguität und offenen Interpretationsräumen spielt.

Man kann das Projekt auch als Gegenpol zur algorithmisch optimierten Bilderflut unserer Gegenwart verstehen. Während die sozialen Medien uns mit einer endlosen Kaskade ähnlicher Motive überschwemmen, bietet diese kuratierte Sammlung einen bewussten Kontrapunkt: Bilder, die Zeit brauchen, die befremden dürfen, die Fragen aufwerfen statt sofortige Befriedigung zu liefern. Wenn Aufmerksamkeit zur knappsten Ressource geworden ist, fordern diese künstlichen Dokumente eine bewusste Entscheidung zum genauen Hinschauen.

Am Ende bleibt die Frage, inwieweit solche Projekte tatsächlich Fenster in eine verschlossene Welt öffnen können oder ob sie letztlich nur unsere eigenen Projektionen und Vorurteile spiegeln. Die „Postkarten aus Pjöngjang“ liefern bewusst keine einfachen Antworten. Sie sind Fragmente einer komplexen Fiktion, die sich als emotional wahr präsentiert. Gerade in dieser Unabgeschlossenheit und Vieldeutigkeit liegt ihr künstlerischer Wert für eine Zeit, die allzu oft nach einfachen Erklärungen verlangt.

Ausstellung

Einige der Motive sind übrigens aktuell in der Ausstellung „Fumes and Perfumes 2025“ im Stuttgarter Züblin-Parkhaus zu sehen.

Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

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