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Arnold Odermatt: Karambolage und die Kunst des Hinsehens

Es gibt Geschichten, die klingen fast zu gut, um wahr zu sein. Ein Schweizer Kantonspolizist, der über vier Jahrzehnte mit seiner zweiäugigen Rolleiflex nicht nur pflichtschuldig Unfallorte für die Akten, sondern auch mit untrüglichem Gespür für Komposition und den entscheidenden Moment seinen Alltag, seine Familie und die Bergwelt festhält. Arnold Odermatt (1925–2021) war dieser Mann, ein Autodidakt, dessen fotografischer Nachlass erst spät entdeckt, aber dann umso nachhaltiger die Kunstwelt beeindruckte.

Die Kunststiftung DZ BANK in Frankfurt am Main widmet diesem außergewöhnlichen Fotografen nun vom 14. Mai bis 15. August 2025 eine Einzelausstellung unter dem Titel »Arnold Odermatt: Auto-Didakt«. Anlass ist der 100. Geburtstag, den Odermatt am 29. Mai 2025 gefeiert hätte. Für Fotografen und Bildbearbeiter, die mehr als nur den schnellen Schnappschuss suchen, bietet diese Schau eine Fundgrube an Inspiration – technisch wie ästhetisch.

Vom Polizeirapport zur Bildikone

Als Arnold Odermatt 1948 seine Polizeikarriere im Kanton Nidwalden begann, war die Fotografie zunächst Mittel zum Zweck. Mit seiner Rolleiflex dokumentierte er Unfallstellen – nüchtern, präzise, für den Rapport. Doch Odermatt entwickelte bald einen zweiten Blick. Waren die Spuren gesichert, die Unfallstelle geräumt, nahm er sich Zeit für seine Bilder. Er suchte das, was er lapidar ›Bauchfoto‹ nannte: eine technisch einwandfreie, scharf fokussierte und oft unter schwierigen Bedingungen perfekt ausgeleuchtete Aufnahme. Die Mittelformat-Rolleiflex mit ihrem quadratischen Negativformat lieferte dabei die nötige Detailzeichnung und Tonalität, die seinen Bildern auch Jahrzehnte später noch ihre Präsenz verleiht. Für Nachtaufnahmen scheute er keinen Aufwand, nutzte Stativ und Magnesiumblitz, um die oft bizarren Szenerien taghell auszuleuchten – eine Praxis, die heute in Zeiten hochempfindlicher Sensoren fast vergessen ist, aber viel über Lichtsetzung unter widrigen Umständen lehrt. Sein Werk ist ein Plädoyer für das genaue Hinsehen, für die Suche nach Struktur und Komposition selbst im Chaos einer Unfallstelle oder der Banalität des Dienstalltags.

Dass diese Bilder nicht im privaten Archiv verschwanden, ist seinem Sohn, dem Regisseur Urs Odermatt, zu verdanken. Bei Recherchen sichtete er das väterliche Konvolut, erkannte dessen Qualität und brachte 1993 mit dem Buch »Meine Welt« den Stein ins Rollen. Der endgültige Durchbruch in der Kunstszene folgte, als Dr. Beate Kemfert 1998 die erste Odermatt-Ausstellung im ehemaligen Frankfurter Polizeipräsidium kuratierte – pikanterweise direkt gegenüber dem heutigen Standort der DZ BANK. Dort wurde der legendäre Ausstellungsmacher Harald Szeemann auf Odermatt aufmerksam und zeigte dessen Arbeiten 2001 auf der Biennale von Venedig. Aus dieser Frankfurter Erstpräsentation stammen auch die Kernbestände der Odermatt-Werke in der Sammlung der DZ BANK, insbesondere aus den heute ikonischen Serien »Karambolage« und »Im Dienst«.

Stille Dramen und geschmolzenes Plastik

Die Frankfurter Ausstellung »Auto-Didakt« schöpft aus diesem reichen Fundus und ergänzt ihn um eine neu erworbene Serie. Im Zentrum stehen die »Karambolage«-Bilder: verunfallte Fahrzeuge, oft menschenleer in der Landschaft stehend, wie bizarre Skulpturen aus Blech und Glas. Odermatt verzichtet auf den reißerischen Moment und konzentriert sich stattdessen auf die Formen, die Texturen, die stillen Folgen des Geschehens. Seine Schwarz-Weiß-Aufnahmen betonen die grafische Qualität der Zerstörung und verleihen den Szenen eine fast zeitlose, manchmal surreale Anmutung. Für Fotografen, die sich mit Dokumentation und Inszenierung auseinandersetzen, bieten diese Bilder Anschauungsmaterial par excellence – wie findet man Ordnung im Chaos, wie erzählt man eine Geschichte ohne Protagonisten?

Die Serie »Im Dienst« gibt Einblicke in den Polizeialltag der Nachkriegszeit bis in die 1990er Jahre – Kollegen, Übungen, Einsätze. Auch hier überzeugt Odermatts Fähigkeit, Atmosphäre und den besonderen Moment einzufangen, der über die reine Dokumentation hinausgeht. Neu in der Ausstellung ist ein Set von sechs Bildern aus der Serie »Rücklichter«. Sie entstand eher zufällig: Nach einem Hausbrand entdeckte Odermatt auf dem Parkplatz eines benachbarten Autohauses durch die Hitze deformierte Rücklichter. Am nächsten Morgen kehrte er in Zivil zurück und fotografierte diese geschmolzenen Plastikformen bei Tageslicht. Das Ergebnis sind faszinierende, fast abstrakte Farbstudien von skulpturaler Qualität – ein Beleg für Odermatts Gabe, auch im Unscheinbaren und Zerstörten bildwürdige Motive zu entdecken und diese mit einfachen Mitteln meisterhaft umzusetzen.

Die Ausstellung in der Kunststiftung DZ BANK ist somit mehr als eine Retrospektive. Sie ist eine Lektion in angewandter Fotografie, die zur Kunst wurde, eine Demonstration technischer Souveränität unter Alltagsbedingungen und ein Beweis dafür, dass der konsequente Blick und die langjährige Beschäftigung mit einem Thema zu einem einzigartigen Werk führen können.

Fakten

Die Ausstellung »Arnold Odermatt: Auto-Didakt« läuft vom 14. Mai bis zum 15. August 2025 im Kabinett der Kunststiftung DZ BANK am Platz der Republik in Frankfurt am Main. Der Zugang erfolgt über das Cityhaus 2 und ist montags bis freitags von 11 bis 19 Uhr kostenfrei möglich. Eine besondere Gelegenheit zum tieferen Einstieg bietet die dialogische Einführung am Mittwoch, den 28. Mai 2025, um 18 Uhr mit Dr. Beate Kemfert und Urs Odermatt. Eine Anmeldung hierfür ist über die Webseite der Stiftung erforderlich. Für Gruppen ab fünf Personen können zudem individuelle Führungen gebucht werden.

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Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

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