Der große Voyeur-Reflex – Wie die Politik die Fotografie unter Generalverdacht stellt

Es grenzt an Realsatire, wenn die Politik, allen voran die SPD mit Justizministerin Stefanie Hubig, verkündet, sie wolle das heimliche Anfertigen von „Voyeuraufnahmen“ umfassender unter Strafe stellen. Man reibt sich verwundert die Augen und fragt sich: Was genau ist eine „Voyeuraufnahme“? Wo verläuft die feine Linie zwischen dem dokumentarisch interessierten Blick und der strafbaren Handlung? Und wer entscheidet eigentlich, ob das Foto einer joggenden Dame im Park oder eines durch denselben Park flanierenden Hipsters nun der harmlosen ästhetischen Erbauung dient, ein Stück Zeitgeschichte oder Voyeurismus, also sexuelle Belästigung ist? Die Antwort ist so einfach wie erschreckend: Das wird im Zweifel ein Gericht entscheiden. Und wie so oft im Leben, wenn es um Interpretationsspielräume geht, könnte dies für viele Bildermacher zu einem unkalkulierbaren Risiko werden. Ein Risiko in der Größenordnung zwischen einer Geldbuße und zwei Jahren Freiheitsentzug.
Die neue Unschärfe des Erlaubten
Bislang war die Sache relativ klar. Das sogenannte Upskirting oder das Downblousing, also das heimliche Fotografieren oder Filmen von Personen, indem man gezielt in deren Ausschnitt oder unter die Kleidung schaut, um intime Aufnahmen zu machen, ohne ihre Zustimmung eingeholt zu haben – ist und bleibt eine Straftat. Das ist im Wesentlichen eine vernünftige Regelung, gegen die niemand ernsthaft etwas einwenden kann. Doch der neue Gesetzesvorstoß geht weit darüber hinaus. Künftig soll es keine Rolle mehr spielen, ob Haut oder Stoff die Körperteile bedecken. Entscheidend ist allein die unterstellte „voyeuristische“ Absicht des Fotografen. Was das im Einzelfall bedeutet, bleibt im Nebel richterlicher Auslegung verborgen. Definitionsgemäß ist Voyeurismus das sexuelle Erleben durch das heimliche Beobachten anderer Menschen, meist in intimen oder privaten Situationen.
Stellen wir uns die Szene vor: Ein Fotograf hält das bunte Treiben auf dem Wochenmarkt fest. Im Sucher: ein Mann mit Melone, eine Frau mit Einkaufskorb, ein Kind mit Luftballon. Plötzlich ruft jemand: „Sie haben auf mein Gesäß gestarrt und fotografiert! Ich fühle mich belästigt!“ Schon ist der Fotograf im Visier des Gesetzes. Die Kamera wird zum Tatwerkzeug, das Bild zum Beweismittel, der Künstler zum potenziellen Angeklagten. Die subjektive Empfindung des Abgebildeten wird zum Maßstab der Strafbarkeit. Das ist eine gefährliche Verschiebung, die den öffentlichen Raum zu einer juristischen Minenfeldzone für jeden macht, der eine Kamera oder auch nur ein Smartphone in der Hand hält.
Vom Schnappschuss zur Straftat: Die neuen Risiken
Die gesellschaftlichen Implikationen sind weitreichend. Seit jeder Bürger mit seinem Smartphone zum Dauerfotografen geworden ist, schafft ein solches Gesetz einen allgegenwärtigen Generalverdacht. Jeder, der im öffentlichen Raum fotografiert, könnte unter dem Verdacht einer sexuellen Motivation stehen. Die harmlose Aufnahme der spielenden Kinder auf dem Spielplatz? Der Schnappschuss von Touristen vor einer Sehenswürdigkeit? Alles potenziell verdächtig, wenn sich nur jemand im Bildausschnitt unwohl fühlt.
Besonders perfide wird die Regelung im privaten Bereich. Fotos, die einst im gegenseitigen Einvernehmen während einer Partnerschaft entstanden, könnten nach einer Trennung zur Waffe werden. Der Satz „Lösch das Foto, sonst zeige ich dich an!“ bekommt eine völlig neue, strafrechtliche Dimension. Die einstige Zuneigung verkehrt sich in ihr Gegenteil und das Gesetz liefert die Munition für Rosenkriege.
Auch die normale Berichterstattung, etwa bei Demonstrationen, Konzerten oder Sportveranstaltungen, gerät in eine rechtliche Grauzone. Was passiert, wenn ein Pressefotograf eine jubelnde Menge ablichtet und eine Person im Bild sich durch den Fokus auf ihr Dekolleté sexuell belästigt fühlt? Muss der Fotograf dann beweisen, dass sein Interesse dem Ereignis und nicht dem Körper galt? Und vor allem: Wie will er das tun? Die Kunstfreiheit und die Pressefreiheit geraten hier in einen ernsten Konflikt mit einem überdehnten Persönlichkeitsrecht.
Die Kunst im Würgegriff: Selbstzensur als Folge
Das eigentliche Gift dieser Gesetzesinitiative ist die Unsicherheit. Welcher Fotograf wird noch das Risiko eingehen, den in der Öffentlichkeit Situationen mit Menschen einzufangen, wenn er damit rechnen muss, sich anschließend vor Gericht für seine künstlerische Absicht rechtfertigen zu müssen? Die logische Konsequenz ist eine schleichende Selbstzensur. Man fragt lieber dreimal um Erlaubnis, verzichtet auf spontane Bilder und verliert damit genau das, was die Lebendigkeit der Alltagsfotografie ausmacht. Die Bilder werden gestellter und am Ende belangloser.
Dabei versucht das Gesetz das ungehinderte Ausleben des Voyeurismus als sexuellen Fetisch zu bekämpfen. Doch anstatt trennscharf zwischen krankhafter Neigung und dem künstlerisch-dokumentarischen Blick zu unterscheiden, wirft es alles in einen Topf. Es kriminalisiert den Blick an sich, sobald er von einem anderen als sexuell motiviert empfunden wird.
Am Ende bleibt ein schaler Nachgeschmack. Ein vermutlich gut gemeintes Gesetz, das weil es auf Gefühlen basiert, eine ganze Kunstform unter Generalverdacht stellt. Es schützt nicht wirklich vor Übergriffen, sondern schafft eine Atmosphäre des Misstrauens und der Angst. Die Gesellschaft verliert dadurch ein Stück ihrer Offenheit und Unbefangenheit. Wer dann noch mit der Kamera durch die Straßen zieht, braucht mehr Mut als je zuvor. Und vielleicht auch einen guten Anwalt.
Es bleibt zu hoffen, dass bevor das Gesetz in Kraft tritt, noch irgendwer wach wird oder dass zumindest die Justiz bei der Anwendung Augenmaß beweist und nicht ein weiteres Stück Alltagsfreiheit auf dem Altar der gut gemeinten aber schlecht gemachten Regulierungswut opfert.
Munter bleiben!








Ich bedaure Männer, denn einer nicht lesbischen Fotografin wird eine Richter(in) eher glauben, beim Auslösen keine sexuellen Hintergedanken (hinter Gedanken?) gehabt zu haben.
Man traut sich ja gar nicht mehr das zu machen, was unter „Street-Fotografie“ fällt. Man kann zwar mit einem Handy durch die Stadt gehen und unzählige Hochformatfotos machen, doch wenn man mit einer hochwertigen Kamera mit einem systembedingt oft großen und langen Objektiv unterwegs ist, wird man nicht selten zumindest schief angeschaut, wenn nicht gar angepöblet.
Besonders als Mann.
Ja dank der EU Richtlinien zur DSGVO darf man schon lange keine Nichtpersönlichen Dinge (?) mehr fotografieren oder Agenturen nehmen es nicht mehr an. In vielen Jahren wird man sich fragen wie unsere Welt, Innenstädte so langweil und unnatürlich aussahen.
Gottseidank machen Smartphones inzwischen ja ganz ordentliche Bilder 🙂
Smartphones sind alltäglich geworden und werden meist nicht wahrgenommen, doch die Bandbreite der Möglichkeiten von Kameras mit Wechselobjektiven können sie keinesfalls abdecken. Smartphones sind eigentlich die Minox 8×11 der heutigen Zeit, nur dass sie fast jede und jeder in der Tasche oder oft offen in der Hand trägt. Eine Kamera mit Wechselobjektiv fällt auf, je besser die Qualität desto größer und damit unübersehbar die Ausrüstung.
Das ist dann wieder so eine Debatte, ob das Glas halb leer oder halb voll ist … Mit dem Smartphone kann man heute ganz ungeniert beispielsweise in Museen fotografieren, in denen man früher angeschnauzt worden wäre, wenn man seine Kamera aus der Tasche gezogen hätte. Und die Bilder, die so entstehen, sind mindestens so gut wie die Fotos aus der analogen Zeit – besser als die einer Kleinstbild-Minox allemal. Angehörige der Gen Z schauen nur verwundert, wenn George Lazenby als James Bond seine Minox zückt: Warum nimmt er nicht sein Smartphone?
Das mit den Museen liegt einfach daran, dass diese die Menge nicht mehr beherrschen, also haben sie resigniert.
Es ist nur so, dass viele der Besiherinnen und Besucher von Museen bei einer Führung ihre Smartphones nicht zum Fotografieren zücken, sondern um sich die ausgestellten Kunstwerke via Internet anzusehen. Da hört man nicht gerne auf die Erklärungen des ausgebildeten Personals.
Und das alles hat nichts mehr mit dem Blog „Der große Voyeur-Reflex – Wie die Politik die Fotografie unter Generalverdacht stellt“ zu tun!
Noch so einer.
Eine ‚Voyeuraufnahme‘ ist jede fotografische Aufnahme, die jemand irgendwie als „ich fühl’ mich beobachtet“ empfindet — auch wenn Sie nur eine Jogger-Dame im Park abgelichtet haben, oder ein Hipster mit Luftballon, oder ein Kind beim Sandkasten-Bau. Denn im Zeitalter höchster Sensibilität gilt: sobald jemand denkt ‚Ha! Der Typ da mit Kamera – ich bin der Hintergedachte!‘, dann zack: Straftat.
Und weil Absicht im Gesetzesentwurf nicht mehr nachgewiesen werden muss — reicht die unterstellte sexuelle Motivation — wird jedes Smartphone zur Tatwaffe, jedes Foto zur Beweislage, jeder Spaziergang im Freien potentielles Verfahren.
Herzlichen Glückwunsch, unsere schönen spontanen Schnappschüsse sind nun juristisches Minenfeld – willkommen im Ambiente der kreativen Selbstzensur!
Hier noch 12 Todsichere Tipps für jeden Fotografen! (Sorry, ich kann nicht anders)
1. Frag immer erst das Parlament.
Bevor Sie auslösen: eine förmliche Anfrage an den zuständigen Ausschuss stellen. Rückantwort abwarten. Nur mit Stempel und Unterschrift fotografieren.
2. Nur noch freigestellte Fotomotive.
Menschen sind hochverdächtig. Fotografieren Sie stattdessen Laternen, Zebrastreifen und besonders unkomplizierte Gullydeckel. Die sind unbescholten.
3. Einverständniserklärungen in dreifacher Ausfertigung.
Vor jeder Aufnahme die Betroffenen schriftlich, notariell und per Handschlag-Protokoll um Erlaubnis bitten. Audio- und Videoaufzeichnungen des Einverständnisses beifügen. Und zwei Zeugen.
4. Kamera sichtbar, Kamera harmlos.
Tragen Sie Ihre Kamera offen, am besten mit einer Aufschrift „Ich dokumentiere harmlos.“ Vermeidet Missverständnisse — oder ruft zumindest eine Hotline.
5. Fotografieren nur bei Tageslicht und unter Aufsicht.
Grelle Spots, Überwachungskameras im Bild, mindestens ein Polizist im Hintergrund — je offizieller es aussieht, desto weniger Voyeur.
6. Kein Zoom, nur Teleprompter-Blick.
Vermeiden Sie jede Nähe: niemals anvisieren, nur „objektiv“ dokumentieren. Halten Sie Abstand, am besten 200 Meter. Fernrohr kaufen empfohlen.
7. Jedes Bild mit Metadaten rechtfertigen.
Fügen Sie EXIF-Felder hinzu: „Anlass: künstlerisch-wissenschaftliche Feldforschung“, „Zweck: soziologische Dokumentation“, „Befugnis: unterschrieben von mindestens einem Beamten“. Drucken Sie das JSON aus, heften Sie es ans Foto.
8. Vor jeder Veröffentlichung: Pressekonferenz.
Präsentieren Sie jedes Bild vor der Presse, erläutern Sie in 45 Minuten, wie bitte-nicht-voyeuristisch das war. Live-Stream mit Q&A.
9. Produzieren Sie nur unverdächtige Kunst.
Jeder Mensch im Bild muss entweder ein Kostüm, ein Namensschild oder einen Hut mit Regierungsemblem tragen. Stylisch und sicher.
10. Backups, Backups, Backups — in Dreifach-Ausführung ans Innenministerium.
Legen Sie Kopien Ihrer Fotos bei der nächsten Dienststelle ab. Damit im Zweifel die Bürokratie schnell beweisen kann, dass alles ordentlich war.
11. Wenn unsicher: sofort löschen — und Ihrem Verteidiger schicken.
Löschen Sie das Foto, drucken Sie es trotzdem aus, schicken Sie es per Einschreiben an Ihre Anwältin. Dokumentation ist alles.
12. Optional: Heiraten Sie die Legalität.
Schließen Sie eine symbolische Ehe mit dem Auflagenkatalog. Belegt die Verbundenheit und reduziert juristische Unsicherheiten um 0,0001 %.
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Falls all das nicht hilft — keine Sorge. Dann ist Ihr Foto eben ein „Voyeurbild“; Sie haben wenigstens alles richtig gemacht, einzig das System hat versagt. Aufgeben ist keine Option: kaufen Sie stattdessen einen Stift, malen Sie die Szene nach und nennen es „abstrakte Soziologie“.
Die Politik wird immer unverständlicher!
Gruß
Mario
Treffender Artikel! Ich hatte mir nach den ersten Medienmeldungen ganz ähnliche Gedanken gemacht. Schon die DSGVO hat den Alltag für Foto- und Videografen deutlich verkompliziert – diese Gesetzesinitiative würde das noch einmal verschärfen. Es bleibt zu hoffen, dass hier endlich mit Augenmaß entschieden wird.