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Bildkompetenz im KI-Zeitalter: Hamburgs ambitionierte Antwort auf die visuelle Vertrauenskrise

Seit die Grenzen zwischen fotografischer Abbildung und algorithmischer Fiktion täglich neu verhandelt werden, ist die Bildkompetenz, also die Fähigkeit zur kritischen Einordnung von Bildern von einem Nischenthema zur demokratischen Notwendigkeit avanciert. Vor diesem Hintergrund wirkt die Ankündigung der Deichtorhallen Hamburg und der Zeit Stiftung, gemeinsam ein Zentrum für Visuelle Medien zu gründen, wie ein überfälliges Signal. Die Partnerschaft zweier so unterschiedlicher, aber gleichermaßen gewichtiger Institutionen – hier der Tempel der Fotokunst, dort der Hort des aufklärerischen Journalismus – weckt hohe Erwartungen. Geplant ist nicht weniger als ein Ort, der die Analyse medialer Umbrüche mit einem innovativen Ausstellungs- und Bildungsprogramm verbindet, um eine neue Form der Medienkompetenz zu fördern.

Zwischen Kunstanspruch und Medienrealität

Die Idee ist ebenso naheliegend wie anspruchsvoll. Während die Fotografie einst als Leitmedium der visuellen Wahrhaftigkeit galt, ist ihre Rolle heute fundamental gewandelt. Vernetzte Bilder gestalten gesellschaftliche Wirklichkeit aktiv mit, statt sie nur abzubilden. Virale Aufnahmen, Memes und KI-generierte Fiktionen bestimmen Aufmerksamkeitsökonomien und prägen Diskurse. Die Fähigkeit, in diesem Dickicht aus Information, Manipulation und gezielter Desinformation navigieren zu können, ist essenziell.

Hier setzt das geplante Zentrum an, das 2028 als eigenständiger Bereich im Haus der Photographie eröffnen soll. Die Kombination der Partner ist dabei der eigentliche Clou. Die Deichtorhallen bringen den künstlerisch-reflektierenden Blick auf das Medium ein, die Fähigkeit, Fotografie in ihrer ästhetischen und historischen Dimension zu betrachten. Die Zeit Stiftung steuert ihre Expertise aus dem zivilgesellschaftlichen Engagement und der Förderung von Nachrichtenkompetenz bei. Diese Verbindung könnte eine produktive Spannung erzeugen, die das Projekt vor Einseitigkeit bewahrt. Es geht eben nicht nur um die technische Entlarvung von Deepfakes, sondern um ein tieferes Verständnis für die gesellschaftliche Relevanz und die Wirkungsmechanismen visueller Kulturen im 21. Jahrhundert, wie es Intendant Dirk Luckow formuliert.

Die Gefahr der gutgemeinten Belehrung

Die größte Herausforderung für ein solches Vorhaben liegt vermutlich darin, nicht zu einer Anstalt für Volkserziehung zu verkommen, die mit erhobenem Zeigefinger die „richtige“ Art des Sehens lehrt. Die Gefahr, in belehrende Allgemeinplätze abzudriften, ist immens. Doch die Äußerungen der Verantwortlichen lassen aufhorchen und deuten auf ein differenzierteres Verständnis hin. Besonders der Ansatz der Kuratorin des Hauses, Nadine Isabelle Henrich, ist hier aufschlussreich. Sie betont, der Fokus liege darauf, „gemeinsam das eigene Verhalten auf ›sozialen‹ Medien als kulturelle wie demokratische Praxis zu reflektieren und bewusst zu gestalten.“

Dieser Gedanke ist entscheidend. Er verlagert den Schwerpunkt von der passiven Belehrung hin zur aktiven Selbstreflexion. Es geht nicht darum, dem Publikum von außen eine Checkliste zum Erkennen von Fälschungen überzustülpen. Vielmehr soll ein Raum geschaffen werden, in dem die Nutzer ihr eigenes Handeln – das Teilen, Liken und Kommentieren – als Teil eines größeren kulturellen und demokratischen Prozesses begreifen. Dieser Ansatz könnte der Schlüssel zum Erfolg des Zentrums sein. Er befähigt die Menschen, sich als aktive Gestalter der Medienlandschaft zu verstehen, nicht nur als deren passive Konsumenten.

Mehr als nur Deepfakes erkennen

Das Programm, das bereits seit dem Antritt von Henrich im Februar 2024 mit der Reihe „Viral Hallucinations“ erste Konturen annimmt, soll im neuen Zentrum gebündelt werden. Geplant sind Workshops, Symposien und Vorträge, die durch eine physische Bibliothek und vor allem durch die digitale Bildungs- und Rechercheplattform „Photography Expanded“ ergänzt werden. Diese Plattform soll die Arbeit des Zentrums virtuell erweitern und Inhalte wie Essays, Tutorials und künstlerische Projekte einem breiten Publikum zugänglich machen.

Für den professionellen Bildbearbeiter und Fotografen liegt der Nutzwert der hier vermittelten Bildkompetenz natürlich nicht im Erlernen von Grundlagen, sondern in der Vertiefung des Verständnisses für die neuen Rahmenbedingungen der eigenen Arbeit. Wie verändern KI-Werkzeuge nicht nur die Bildproduktion, sondern auch die Bildrezeption? Welche neuen ethischen Fragen stellen sich, wenn die Grenze zwischen Dokumentation und Kreation verschwimmt? Und wie beeinflussen die unsichtbaren Algorithmen der Plattformen die Sichtbarkeit und Wirkung der eigenen Bilder? Das Zentrum verspricht, ein Forum für genau diese Debatten zu werden, die für die Zukunft des Berufsstandes von zentraler Bedeutung sind.

Fazit

Das Vorhaben ist ein Wettlauf mit der technologischen Entwicklung. Doch anstatt in Kulturpessimismus zu verfallen, setzen die Hamburger Partner auf Aufklärung und Dialog. Wenn es gelingt, einen Freiraum für kritische Reflexion zu schaffen, der ohne ideologische Einhegung auskommt, könnte von Hamburg ein wichtiger Impuls für den gesamten deutschsprachigen Raum ausgehen. Wir werden die Entwicklung mit professioneller Neugier beobachten.

Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

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