
Als Christie’s die erste exklusive KI-Kunst-Auktion feierte, rebellierten tausende Künstler gegen den vermeintlichen Ausverkauf der kreativen Seele. Doch wie wirkt sich dies auf die Aura des Kunstwerks aus? Ist es wirklich das Ende des Werkbezugs, wenn Bilder auf Knopfdruck entstehen? Oder stehen wir vor einer Neuerfindung des Bildschaffens selbst?

Auf den Bildschirmen der Online-Auftions-Teilnehmer flimmerten Ende Februar Anfang März einige Tage digital generierte Kunstwerke, deren Schöpfungsprozess manchmal nur Sekunden dauerte. „Augmented Intelligence“ – so der Titel der ersten ausschließlich KI-generierten Kunstauktion des renommierten Hauses. Mit 728.784 Dollar Gesamterlös und einem Spitzenpreis von 277.200 Dollar für Refik Anadols „Machine Hallucinations – ISS Dreams – A“ übertrifft die Veranstaltung alle Erwartungen. Gleichzeitig organisiert sich draußen der Widerstand: Ein offener Brief, unterschrieben von mehr als 6.000 Künstlern, bezeichnet die Ausstellung als Unterstützung für „Massendiebstahl“ an menschlichen Kreativschaffenden.
Die Schlacht um die Seele der Kunst ist eröffnet. Doch geht es wirklich nur um Copyright-Fragen und wirtschaftliche Interessen? Oder steht etwas Tieferes auf dem Spiel – unsere fundamentale Beziehung zum kreativen Werk selbst?
Die Werkbank ohne Späne
Früher wusste man genau, wann ein Werk entstand. Es gab Ateliers mit Farbgeruch oder Überstunden vor flimmernden Monitoren. Kurz, den kollektiven Prozess von Konzept, Skizze, Umsetzung und Korrektur. Manchmal dann auch diese magischen Momente, wenn aus dem Chaos des Schaffensprozesses plötzlich Ordnung wurde – ein fertiges Werk, das den Schweiß und die Tränen seiner Entstehung in jeder Faser trug.
Und heute? Ein Prompt, ein Klick, ein Bild. Kein schweißnasser T-Shirt-Kragen. Keine Kaffeeflecken auf zerknitterten Skizzenpapieren. Keine durchdiskutierten Nächte im Team. Stattdessen sanftes Surren von Grafikprozessoren in fernen Rechenzentren.
Empirische Studien zur verkörperten Kognition zeigen, dass physisches Engagement – Bewegung, Körperwahrnehmung und die Auseinandersetzung mit Material – die emotionale Tiefe und Intensität der Kunstwahrnehmung drastisch verstärken. Das aktive Erschaffen von Kunst führt nachweisbar zu positiveren Gefühlen als passives Betrachten. Ist es also ein Verlust, wenn der haptische Schaffensprozess auf Tastaturklicks reduziert wird?
Die Preisfrage: Was kostet ein Sekundenwerk?
Aus strategischer Sicht stehen wir vor einer tektonischen Verschiebung der Marktdynamik. Wenn jeder binnen Minuten fotorealistische Bilder erzeugen kann, was rechtfertigt dann noch Premium-Honorare? Die Antwort ist so einfach wie unbequem: Es wird nicht mehr das Ergebnis sein, sondern die Geschichte dahinter.
„Künftig bezahlt der Kunde nicht mehr für das Bild selbst – er bezahlt für die Story seiner Entstehung“, analysiert ein Agenturleiter, der anonym bleiben möchte. „Wer nicht erklären kann, warum sein Prompt-Engineering 500 Euro pro Bild wert sein soll, während die KI-Website nebenan fünf Euro verlangt, wird schneller ausgetauscht als ein veralteter Grafikchip.“
Die ökonomische Realität verlangt ein Umdenken: Nicht mehr das fertige Pixel-Arrangement definiert den Wert, sondern die Narration des Prozesses. Hier entsteht eine seltsame Parallele zur Welt der Mode: Auch dort bezahlt man längst nicht mehr für das Material oder die Handwerkskunst allein, sondern für die Markengeschichte, die Tradition, das Narrativ. Luxusbags sind oft nicht besser genäht als ihre Alternativen aus der Mall – aber ihre Entstehungsgeschichte ist Teil einer kulturellen Erzählung, die Premiumpreise rechtfertigt.
Das auratische Echo: Was Benjamin uns heute sagen würde
„Selbst bei der höchst vollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet.“ Walter Benjamins berühmte Worte über die Aura des Kunstwerks im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit gewinnen im KI-Zeitalter neue Brisanz.
Die Aura, jene mysteriöse Eigenschaft des Originals, die Benjamin als „einmaliges Erscheinen einer Ferne, so nah sie sein mag“ beschreibt, scheint beim KI-generierten Bild vollends zu verschwinden. Denn was ist ferner als ein Algorithmus, der aus Milliarden Trainingsbildern ein neues synthetisiert? Wo ist hier das „Hier und Jetzt“, wenn das Werk nie einen physischen Entstehungsort hatte?
Doch Benjamin irrte vielleicht in einem entscheidenden Punkt: Die Aura wandelt sich, aber verschwindet nicht. Sie verlagert sich vom Objekt auf die Idee, vom Material auf den Prozess, vom Pinselstrich auf den Prompt. Spüren wir in Zukunft die Präsenz eines Menschen nicht mehr in Farbschichten, sondern in der Einzigartigkeit seiner Vorstellungskraft, die durch die Maschine fließt?
Das Dilemma der Zielgruppen
Für Fotografen stellt sich die existenzielle Frage: Wie viel physisches Shooting muss bleiben, um Authentizität zu bewahren? Die Antwort ist vielschichtiger als ein simples Entweder-Oder. Studien zur Wahrnehmung von Authentizität zeigen, dass Betrachter nicht zwingend den physischen Entstehungsprozess kennen müssen, um Authentizität zu spüren – sie reagieren auf subtile Signale von Intention, Vision und Kontext.
Vielleicht liegt die Zukunft in einer hybriden Arbeitsweise: Das physische Shooting bleibt als Quelle der Inspiration, als Ort der Begegnung, als Raum für Zufälle und Entdeckungen. Die KI wird zum Werkzeug der Erweiterung, nicht des Ersatzes.
Für Agenturen wiederum verändert sich die gesamte Kommunikationsarchitektur. Wenn kein Team mehr gemeinsam im Raum sitzt, wie entstehen dann kollektive Ideen? Die bisher etablierten Briefing-Rituale – vom Kickoff-Meeting bis zur gemeinsamen Wandtafel – müssen neu gedacht werden. Womöglich braucht es zukünftig einen „KI-Dolmetscher“, der zwischen menschlichen Intentionen und maschinellen Möglichkeiten vermittelt.
Der emotionale Anker im digitalen Sturm
Die fundamentale Frage bleibt: Verlieren wir durch die Beschleunigung und Automatisierung des Schaffensprozesses den emotionalen Bezug zu unseren Werken? Die psychologische Forschung liefert Hinweise: Die emotionale Bindung zwischen Schöpfer und Werk entsteht durch persönliches Investment – Zeit, Mühe, Leidenschaft. Diese Bindung ist kein Automatismus, sondern das Ergebnis einer Beziehung, die sich über die Zeit entwickelt.
„Wenn ich früher wochenlang an einer komplexen Bildmontage arbeitete, wurde sie Teil von mir“, erinnert sich ein langjähriger Photoshop-Künstler. „Heute generiere ich ähnlich komplexe Bilder in Minuten – sie beeindrucken mich, aber sie berühren mich nicht auf die gleiche Weise. Sie sind wie flüchtige Bekanntschaften statt alte Freunde.“
Doch ist dieser Verlust unvermeidlich? Oder liegt die Lösung in einer bewussten Entschleunigung, einem absichtsvollen Verweilen im Prozess, auch wenn die Technologie Abkürzungen anbietet?

Die neue Metaebene des Bildschaffens
Was in dieser Debatte oft übersehen wird: Mit KI verschiebt sich die kreative Arbeit auf eine Metaebene. Der Künstler wird zum Kurator seiner eigenen Ideen, zum Dirigenten eines Orchesters aus Algorithmen, zum Regisseur einer Inszenierung, bei der die KI zwar die Bühnenbilder malt, aber nie das Drehbuch schreibt.
Diese Metaebene erfordert neue Fähigkeiten: konzeptuelles Denken, narratives Verständnis, kuratorische Kompetenz. Der Wert liegt nicht mehr in der handwerklichen Umsetzung, sondern in der Fähigkeit, aus unbegrenzten Möglichkeiten die eine richtige Richtung zu erkennen.
Hier liegt vielleicht die Antwort auf unsere Ausgangsfrage: Der professionelle Bildmacher erfindet sich neu, indem er vom Handwerker zum Meta-Kreativen wird. Er verliert vielleicht den direkten physischen Kontakt zum Werk, gewinnt aber eine neue Form der Autorschaft, die weniger in der Ausführung als in der Vision liegt.
Die Zukunft: Authentizität im Dialog mit der Maschine
Am Ende könnte die wertvollste Währung im Zeitalter der KI-generierten Bilder nicht Geschwindigkeit oder technische Perfektion sein, sondern Authentizität – verstanden nicht als Echtheit im Sinne menschlicher Handarbeit, sondern als Ausdruck einer echten, menschlichen Vision.
Die interessantesten KI-Künstler der Gegenwart wie Refik Anadol oder Sougwen Chung zeigen bereits, wie es gehen kann: Sie nutzen die Maschine nicht als Ersatz, sondern als Partner in einem fortlaufenden Dialog: Sie stellen Fragen an die KI und interpretieren ihre Antworten. Sie fügen menschliche Unvollkommenheit hinzu, wo die Maschine zu perfekt wird. Sie nutzen die Geschwindigkeit der KI nicht, um mehr zu produzieren, sondern um tiefer zu experimentieren.
Vielleicht ist das der Weg vorwärts: Nicht die Rückkehr zur rein physischen Kreation, aber auch nicht die bedingungslose Kapitulation vor der Effizienz des Algorithmus. Sondern ein neuer Weg des bewussten Dialogs, in dem wir die Maschine als Erweiterung unserer Kreativität begreifen – nicht als ihren Ersatz.
Die Aura verschwindet nicht – sie transformiert sich nur.





