BlogKI

Göttliche Pixelprediger: Wenn Jesus zum Vlogger wird

Die alte Botschaft in neuem Format: KI verwandelt biblische Gestalten in digitale Influencer – ein Phänomen zwischen viraler Unterhaltung und digitalem Evangelium.
TikTok, das Land der unbegrenzten Algorithmen, hat einen neuen Star: Jesus Christus. Nicht den historischen Nazarener oder seine traditionellen Darstellungen, sondern eine Vlogger-Version mit perfektem Bartschnitt, Selfie-Stick und dem untrüglichen Blick eines erfahrenen KI-Content-Creators. „Hey Follower, heute erzähle ich euch, wie ich mit fünf Broten und zwei Fischen einen ganzen Schwarm Influencer versorgt habe #WunderChallenge #FeedTheWorld“. Was klingt wie eine Parodie, ist der letzte Schrei auf den sozialen Plattformen – und vielleicht auch die neueste Evolutionsstufe religiöser Kommunikation.

Vom Gutenberg-Evangelium zum Heiligen-Hashtag

Wer die Geschichte der religiösen Erzählkultur betrachtet, erkennt ein wiederkehrendes Muster: Jede neue Medientechnologie wurde früher oder später zum Vehikel für die ältesten Geschichten der Menschheit. Als Johannes Gutenberg Mitte des 15. Jahrhunderts seine Druckerpresse erfand, war die Bibel das erste Werk, das er massenweise verbreitete. Die Reformation nutzte dieses Medium, um theologische Botschaften an ein breites Publikum zu bringen und die religiöse Landschaft grundlegend zu verändern. Der direkte Zugang zur heiligen Schrift ohne priesterliche Vermittlung war revolutionär – und provozierte heftige Gegenwehr der etablierten Kirche.

Radio und Fernsehen erweiterten im 20. Jahrhundert die Reichweite religiöser Botschaften noch einmal dramatisch. Plötzlich konnten Prediger Millionen Menschen gleichzeitig ansprechen. Der Teleevangelist wurde geboren – eine Symbiose aus religiösem Eiferer und Medienprofi, dessen Auftritte sich oft eher an den Regeln des Showbusiness als an theologischen Prinzipien orientierten. Die Message blieb dieselbe, aber die Verpackung wurde spektakulär angepasst.

Nun erleben wir den nächsten Mediensprung: KI-generierte Bibelgeschichten fluten seit Anfang 2025 TikTok, Instagram und YouTube. Accounts wie „The AI Bible“ oder „@HolyVlogsz“ zeigen Noah, David oder Daniel als moderne Vlogger, die ihre Geschichten mit Selfie-Stil, zeitgenössischem Slang und Humor präsentieren. Die „AI Bible Influencer“ sind der letzte Schrei – und erstaunlich erfolgreich.

Digital gestützter Glaube im Algorithmus-Zeitalter

Was technisch dahintersteckt, ist inzwischen fast schon banal: Die Skripte werden von ChatGPT oder anderen Sprachmodellen erzeugt. Für die Videos kommen Tools wie Google Veo 3 zum Einsatz. Die KI-generierten Avatare und Stimmen werden immer realistischer, die Produktionskosten tendieren gegen null. Start-ups AutoShorts.ai automatisieren sogar das Posting der Videos – bis zu 120 pro Monat und Konto. Was früher ein ganzes Produktionsteam benötigte, macht heute eine Person mit einem Laptop und den richtigen KI-Tools.

Doch hier liegt auch eine gewisse Ironie: Während die Produktionsmittel demokratisiert werden, kontrollieren wenige Plattformen und ihre Algorithmen, welche Inhalte tatsächlich gesehen werden. Die vermeintlich freie Verbreitung religiöser Botschaften ist einem neuen Torwächter unterworfen – dem Algorithmus, der nach Engagement und nicht nach theologischer Tiefe filtert. Gott mag allwissend sein, aber Facebook und TikTok entscheiden, wer seine Botschaft zu sehen bekommt.

Zwischen geistlicher Substanz und digitalem Fast Food

Die Frage, die sich aufdrängt, ist natürlich: Was bedeutet diese Transformation für die religiöse Botschaft selbst? Wird der Inhalt verwässert, wenn Jesus in 60-Sekunden-Clips die Bergpredigt hält, oder erreicht er dadurch Menschen, die sonst nie ein Gleichnis hören würden?

Die Geschichte zeigt, dass neue Medienformen zunächst oft mit Skepsis betrachtet werden. Als die ersten gedruckten Bibeln erschienen, sahen viele Kirchenvertreter darin eine Bedrohung ihrer Deutungshoheit. Ähnlich erging es den ersten Radiopredigten und Fernsehgottesdiensten. Heute finden manche religiöse Führungspersonen KI-generierte Bibel-Influencer befremdlich – während andere das Potential zur Evangelisierung erkennen und nutzen.

Es ist eine faszinierende Parallele zur Kunstgeschichte: Auch dort wurde jede neue Technologie – von der Fotografie bis zum digitalen Rendering – anfangs als minderwertig betrachtet, bevor sie als eigenständiges Medium Anerkennung fand. Die KI-Bibel-Vlogger könnten sich langfristig als eine neue, eigenständige Form religiöser Kommunikation etablieren – oder als kurzlebige Modeerscheinung wieder verschwinden.

Die spirituelle Singularität

Was diese Entwicklung besonders bemerkenswert macht, ist die parallele Evolution zum allgemeinen Content-Creation-Markt. KI-generierte Inhalte dominieren zunehmend alle Bereiche – von Mode und Lifestyle bis hin zu Gaming und Nachrichten. Bei YouTube verwenden angeblich 72 Prozent der Creator regelmäßig KI-generierte Thumbnails, die die Klickraten um 38 Prozent steigern. Die Techniken der kommerziellen Aufmerksamkeitsökonomie finden nun ihren Weg in die religiöse Sphäre.

Was mich dabei am meisten beunruhigt, ist nicht die Möglichkeit von Fake News mit religiösem Charakter, sondern etwas, das ich als „relative Verblödung“ bezeichnen würde. Wenn wir zu viele persönliche und praktische Entscheidungen – inklusive unserer spirituellen Orientierung – an KI-Systeme delegieren, verlernen wir möglicherweise das eigene Denken und die kritische Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen. Ähnlich wie wir heute kaum noch ohne Navigationssystem durch fremde Städte finden, könnten wir bald unfähig sein, ohne KI-Hilfe moralische oder spirituelle Orientierung zu finden.

Der virtuelle Jesus, der dir auf TikTok erklärt, wie du deine Feinde lieben sollst, ersetzt vielleicht die eigene Auseinandersetzung mit diesem schwierigen Konzept. Wer braucht schon tiefgreifende spirituelle Erfahrungen, wenn die KI die perfekte Meditation für jede Lebenslage maßschneidert? Die KI-Pille gegen spirituellen Hunger ist süß und leicht zu schlucken, aber nährt sie auch die Seele?

Genesis 2.0: Erschaffung einer neuen Erzählkultur

Dennoch wäre es zu einfach, diese Entwicklung pauschal zu verdammen. Die Reimagination biblischer Geschichten hat eine lange Tradition – von mittelalterlichen Mysterientexten über Bach-Oratorien bis hin zu Blockbuster-Filmen wie „Jesus Christ Superstar“ oder „Die Passion Christi“. Jede Generation interpretiert diese Urgeschichten neu und passt sie ihrem kulturellen Kontext an.

Die KI-Bibelvlogger könnten in dieser Traditionslinie stehen – als zeitgemäße Interpretation für eine Generation, die in Kurzvideos denkt und kommuniziert. Was heute als oberflächlich erscheint, könnte morgen als innovative Form der Glaubensvermittlung erkannt werden.

Möglicherweise ist es sogar eine Chance: Während traditionelle religiöse Institutionen mit Mitgliederschwund kämpfen, erreichen diese digitalen Propheten Menschen, die vielleicht nie einen Fuß in eine Kirche setzen würden. Sie sprechen eine Sprache, die im digitalen Alltag glaubwürdig erscheint. Die Frage ist nicht, ob Jesus einen TikTok-Account haben sollte, sondern ob seine Botschaft in diesem neuen Medium authentisch vermittelt werden kann.

So oder so – wir stehen erst am Anfang dieser Entwicklung. Die KI-Tools werden immer leistungsfähiger, die Grenzen zwischen menschlicher und künstlicher Kreativität verschwimmen zunehmend. Was heute noch als neuartiges Phänomen auffällt, könnte morgen selbstverständlicher Teil der digitalen Landschaft sein. Die göttliche Botschaft findet ihren Weg – ob durch Hieroglyphen, Gutenberg-Bibeln oder KI-generierte Vlogs. Die Frage ist nur, was wir daraus machen.

Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

3 Kommentare

  1. „Hey Follower, heute erzähle ich euch, wie ich mit fünf Broten und zwei Fischen einen ganzen Schwarm Influencer versorgt habe #WunderChallenge #FeedTheWorld“ – ich möchte wetten, dass er den Trick da auch nicht verraten hat. Nach der Speisung der 5000 blieben ja noch körbeweise Reste übrig; das war schon beeindruckend. Erst Johannes hat erzählt (2, 3–10), dass Jesus bei manchen Gelegenheiten auch für die Getränke gesorgt hat.

    In meiner Kindheit gab es noch die „Biblischen Geschichten“ vom Bayerischen Rundfunk im Ersten Fernsehprogramm; da hatten sich Schauspieler einen Bart angeklebt, eine Djellaba (oder wie auch immer man das damals genannt hat) übergeworfen und in einer Studiokulisse Episoden aus der Genesis nachgespielt, wobei die zahlreichen Szenen mit Sex und Gewalt weitgehend ausgespart wurden. Die freshen KI-Videos von heute machen vermutlich mehr her. (Aber wohl immer noch ohne Sex und Gewalt, oder?)

    Wie man es auch immer anstellt … Damals konnte ich mich dem schulischen Religionsunterricht aussetzen, das Kinderprogramm des Bayerischen Rundfunks sehen oder in der Bibel lesen (nach Exodus wurde es ein bisschen öde, aber ich wollte zumindest den Pentateuch schaffen und als Leser war ich auch nicht wählerisch), aber es nützte nichts: Ich fand die Geschichten ja ganz spannend, aber alles Religiöse perlte an mir ab wie Wasser von einer Ente. Für den Glauben muss man wohl geboren sein.

    1. Ja, Johannes war der kreativste der den Texten theologisch zugeschriebenen Evangelisten. Als letzter Autor der vier hatte er aber auch am meisten Zeit zur Ausschmückung der Story. 😉

      Ich hatte das Alte Testament (abzüglich der A zeugte B zeugte C … Listen) in meinem jugendlichen Leichtsinn ja mal wegen Däniken und seinen wesentlich spannenderen Fantasy-Erzählungen gelesen. Hatte mir mal gute Dienste in der nachhaltigen Abwehr der klingelnden Zeugen Jehovas geleistet. 😁

      1. Allein die Wunder: Er fängt gleich mit der Verwandlung von Wasser in Wein an, was ja schon mal ziemlich eindrucksvoll ist und mit vielen liebevollen Details glänzt – der Dialog zwischen Maria und Jesus ist Comedy-Gold, und dann der Hinweis, normalerweise würden Gastgeber am Ende, wenn die Gäste schon gut abgefüllt sind, nur noch billigen Wein ausschenken; hier dagegen würde der beste Wein ganz zum Schluss serviert.

        Und den Abschluss der Wunder bildet bei Johannes die Wiedererweckung des toten Lazarus – in den anderen Evangelien hatte Jesus Tote wiedererweckt, die gerade eben erst gestorben waren, aber Lazarus war schon drei Tage begraben und die Aussage „Er stinkt schon!“ ließ keinen Zweifel an seinem Zustand. Trotzdem kehrte Lazarus in die Welt der Lebenden zurück und ließ es sich gleich wieder schmecken.

        Andererseits: Der Antisemitismus des Johannesevangeliums nervt. Da zieht der jüdische Wanderprediger Jesus von Nazareth mit seinen jüdischen Jüngern herum und predigt Juden seine Variante der jüdischen Religion, aber wenn in diesem Evangelium von „den Juden“ die Rede ist (und das ist es sehr oft), sind immer die Feinde von Jesus gemeint.

Schreibe einen Kommentar

Bitte melden Sie sich an, um einen Kommentar zu schreiben.

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"