Bilder der Völkerwanderung
„Die Völkerwanderung“ ist anderthalb Jahrtausende her, Stoff für den Geschichtsunterricht zwischen Antike und Frühmittelalter. Wie sie aussah, wissen wir nicht. Realistische zeitgenössische Bilder davon gibt es nicht – nur spätere historisierende Darstellungen. Wie die gegenwärtige Völkerwanderung aussieht, sehen wir dagegen jeden Tag in den Medien. Vom zweifelhaften Privileg, Zeitzeuge eines Umbruchs zu sein.
Nein, zur Einschätzung der gegenwärtigen Situation mit Hunderttausenden, ja Millionen Flüchtlingen, die durch Kriege und wirtschaftliche Not bedingt ihre Heimat verlassen (müssen), will ich hier nichts schreiben. Das Thema ist zu komplex, die Perspektiven hängen zu sehr von der Einschätzung politischer, wirtschaftlicher, religiöser und anderer Faktoren ab. Nichts, das sich in ein paar Zeile in einem Blog abhandeln ließe.
Schreiben möchte ich hingegen über die Bilder dieses Dramas, dessen Zeugen wir derzeit werden. Der Satz des kanadischen Kommunikationstheoretikers Marshall McLuhan „The medium is the message“ ist ziemlich genau 50 Jahre alt (er erschien in seinem 1964 publizierten Buch „Understanding Media“). Er ist als Zitat so sehr Bestandteil unserer Alltagssprache geworden, dass man kaum noch darüber nachdenkt, was er genau bedeutet.
Kurz: Das Medium ist nicht nur stofflicher Träger einer Botschaft, sondern es bestimmt mit, wie diese Botschaft strukturiert und aufgenommen wird. Der Inhalt einer – zum Beispiel schriftlich fixierten – Aussage ist zwar immer derselbe, unabhängig vom transportierenden Medium. Dennoch macht es einen erheblichen Unterschied, ob er in einem seriösen wissenschaftlichen Werk abgedruckt ist oder in einem Krimi auftaucht, ob als Graffito an einer Backsteinwand in einem sozialen Problemviertel oder als Werbung für einen Baumarkt in einer Prospektbeilage.
Wir erwarten von einem bestimmten Medium eine bestimmte Art von Botschaft und interpretieren sie in diesem Kontext. Insofern ist das Fernsehen eines der Medien, das hinsichtlich seiner Inhalte am breitesten angelegt ist. Hier gibt es alles von der gut recherchierten Dokumentation und seriösen Nachrichtensendung bis zu guten oder schlechten Spielfilmen, TV-Filme und -Serien, Pseudo-Dokumentationen, Werbe-Trash und so fort.
Das hat unter anderem zur Folge, dass es beim Umschalten zwischen verschiedenen TV-Kanälen oft nicht unmittelbar klar ist, welchen Charakter das aktuell Gesehene hat. Flüchten die Menschenmassen, die uns gezeigt werden, gerade vor Außerirdischen oder Zombies – bringen sie sich vor Kriegen, Diktatoren, Umweltkatastrophen oder wirtschaftlichem Elend in Sicherheit?
Bilder sind etwas anderes als Statistiken oder Geschichtsschreibung. Die Vernichtung der europäischen Juden nahm in der Wahrnehmung eine andere Form an, nachdem sie 1978 in der US-Fernsehserie „Holocaust“ verfilmt worden war – und damit nicht mehr nur die Rede war von Millionen Ermordeter, sondern das Schicksal konkreter (wenn auch fiktionaler) Menschen gezeigt wurde.
Insofern kann das Foto eines einzigen Kindes, das beim Untergang eines überladenen Flüchtlingsbootes ertrank und an den Strand des türkischen Bodrum geschwemmt wurde, eine größere Wirkung haben als die Statistiken des Schreckens, die penibel die Tausende und Abertausende auflisten, die bei der Fahrt übers Mittelmeer ums Leben gekommen sind.
Die US-Militärbehörden wissen sehr wohl, warum sie nur noch bestimmte Journalisten mit überwachten Arbeitsbedingungen in Kampfgebieten zulassen – die Überzeugungskraft von Fotos und Filmen mit Toten und Verletzten ist zu überwältigend und würde allemal den Sieg über wohlformulierte Statements zum angeblichen Stand eines Krieges davontragen. Perverserweise setzen die Agitatoren des „Islamischen Staates“ umgekehrt genau auf diese Wirkung brutaler Bilder, um Angst und Schrecken zu verbreiten, Sympathisanten zum Mitmachen zu ermuntern und Gegner einzuschüchtern. Die eine Strategie ist so widerlich wie die andere.
Sprechen wir nicht vom idealtypischen Betrachter der Kommunikations- und Rezeptionstheorie. Wie gehen Sie mit den Bildern der Flüchtlinge um, wie nehme ich selbst sie wahr? Ich stelle an mir fest: Ich bin ein Opfer des „The medium is the message“-Sachverhalts; ich sehe das Elend, bin tief erschüttert oder entsetzt, traurig und wütend, überweise Spenden, denke über ehrenamtliche Mitarbeit nach – und dennoch ist das Gesehene gleichzeitig weit weg. Ob die Szenen die Verteilung von Wasserflaschen im Libanon zeigen oder an einem deutschen Hauptbahnhof – ich brauche einen gewissen Aufwand geistiger Energie, um mir zu vergegenwärtigen, dass gerade das mehr oder weniger vor meiner Haustür geschieht.
Ich bin im einen Augenblick wütend und entsetzt über eine Meldung (eventuell gar Filmszenen), dass der „Islamische Staat“ wieder einmal antike Baudenkmäler in Palmyra oder sonst wo mit Sprengstoff in die Luft gejagt hat – und bin im nächsten Augenblick wütend und entsetzt über mich selbst, weil ich in geradezu bildungsbürgerlicher Weise den Verlust der alten Kulturgüter für einige Momente ebenso empörend gefunden habe wie das Abschlachten Menschen anderen Glaubens durch die Milizen. (Ich habe den Grad der Empörung nicht verglichen, aber der Unterschied war im aktuellen Erleben nicht sehr groß.)
Und so bin ich ständig zerrissen: Die Bilder erschöpfter Menschenmassen, die über staubige Feldwege oder aus überfüllten Fähren strömen, erwecken in mir abstrakte Gedanken, wie viele wohl noch kommen werden, wie wir das bewältigen sollen, welche sozialen Reaktionen es auslösen könnte. Und dem Kurzinterview mit einem einzelnen, nun konkreten Flüchtling mit einem individuellen Gesicht, der nichts mehr besitzt außer seiner Kleidung am Leib und dem Inhalt seines Rucksacks, der von den Gründen seiner Flucht berichtet, ihren Strapazen, und der Freude, endlich im gelobten (Deutsch)Land eingetroffen zu sein, folgt die unmittelbare Einsicht, dass wir ihn nicht zurückweisen können, sondern helfen müssen, irgendwie.
Was die Bilder der Flüchtlinge zeigen, ist mir gleichermaßen hautnah – und fern und fast so fiktional wie ein dramatischer Spielfilm. Aber – und dem kann ich mich als Medienkonsument nicht entziehen: Ich leide und triumphiere ja auch mit den fiktionalen Gestalten eines Spielfilms, und das in dem (wenn auch nicht exakt gleichzeitigen) Wissen, dass sie nur ihre von einem Drehbuch vorgegebenen Rollen spielen. Wirklich ist nicht (nur), was ich unmittelbar erlebe, sondern was mir die Medien mittelbar präsentieren.