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Sora App: Wenn KI-Videos unsere digitale Identität neu verhandeln

„Du wirst nicht glauben, was ich gestern gemacht habe!“ – Früher der Auftakt zu einer wahren, wenn auch vielleicht ausgeschmückten Geschichte. Heute? Der Beginn eines mit Sora 2 in der Sora App generierten Videos, in dem Ihr Gegenüber etwas tut, was er nie getan hat, an einem Ort, den er nie besuchte.

Ein Foto gilt als Beweis, so lautete einst die beruhigende Gewissheit, bevor Photoshop diese Weisheit zur Nostalgie degradierte. Doch während wir uns gerade erst an den Gedanken gewöhnt haben, dass Fotografien nicht mehr zwingend die Wirklichkeit abbilden, stehen wir bereits an der Schwelle einer neuen Ära: Auch das Video als bewegtes Zeugnis der Realität verabschiedet sich in den Ruhestand der Mediengeschichte. OpenAIs Sora-App, die binnen 72 Stunden die US-App-Charts anführte, ist mehr als nur ein technisches Novum. Sie ist ein kultureller Brandbeschleuniger, der das Publikum nicht nur bereit für KI-generierte Bewegtbilder findet, sondern es geradezu herbeisehnen lässt.

Der digitale Doppelgänger und die Fabrikation des Selbst

Die Inszenierung des Ichs ist keine neue Disziplin. Vom gemalten Porträt bis zum Instagram-Filter haben wir stets nach vielfältigen Wegen gesucht, unsere Abbilder zu kontrollieren. Doch diese Methoden waren im Kern kuratorisch; sie optimierten eine bestehende Realität. Sora hingegen ist fabrikatorisch. Es geht nicht mehr darum, das Wie der Darstellung zu beeinflussen, sondern das komplette Was zu erfinden.

Das Herzstück dieser Entwicklung ist die „Cameo“-Funktion der Sora App. Nach einer einmaligen Verifizierung der eigenen Identität per Video kann der persönliche Avatar in jeden erdenklichen Kontext montiert werden. Vom Weltraumspaziergang bis zum Tiefseetauchen mit Walen – der digitale Doppelgänger kennt keine physischen oder finanziellen Grenzen. Während wir im Jogginganzug auf der Couch abhängen, erobert unser Avatar die Welt. OpenAI bietet dabei scheinbar Kontrolle: Man kann festlegen, wer die eigene Abbildung nutzen darf und wird bei Verwendung benachrichtigt. Doch diese Mechanismen sind vermutlich eher ein fragiles Schutzschild in einem System, das auf die grenzenlose Rekombination von Daten ausgelegt ist.

Die Demontage der visuellen Wahrheit

Der Satz „Ich habe es mit eigenen Augen gesehen“ verliert in der Sora-Ära seinen letzten Rest an Beweiskraft. Die Folgen reichen weit über die private Selbstdarstellung hinaus. Wenn Journalisten, wie im Test von NPR geschehen, trotz aller Sicherheitsrichtlinien problemlos ein Video generieren können, in dem Richard Nixon die Fälschung der Mondlandung verkündet, was bleibt dann von unserem Vertrauen in visuelle Medien?

Wir kommen in eine Zeit, in der die Dinge, die wir sehen, überhaupt nicht mehr glaubwürdig sind. Diese Entwicklung mündet nicht zwangsläufig in die Akzeptanz von Lügen, sondern potenziell in einen Zustand des radikalen Misstrauens – einen Nihilismus, in dem jede Wahrheit als potenziell manipuliert abgetan werden kann. Dies ist der perfekte Nährboden für Desinformation und die Erosion einer gemeinsamen, faktenbasierten Realität.

Vom Handwerker zum Prompt-Poeten: Die neue Ökonomie der Kreativität

Für Medienschaffende bedeutet diese Entwicklung eine tektonische Verschiebung. Die Meisterschaft an Kamera und Schnittpult weicht der Kunst des perfekten Prompts. Allein mit Worten entstehen Inhalte, die früher Tage der Planung, ein Team von Spezialisten und erhebliche Budgets erforderten. Die Demokratisierung des Bewegtbilds erreicht einen neuen Höhepunkt: Jeder kann nun visuell überzeugende Geschichten erzählen – vorausgesetzt, er beherrscht die Kunst, dem Algorithmus präzise Anweisungen zu geben.

Diese Verschiebung vom handwerklichen zum sprachlichen Talent wird durch harte Marktdaten befeuert. KI-generierte Videos erzielen laut Analysen 32 % mehr Interaktionen und steigern die Kaufbereitschaft um ein Vielfaches. Es ist daher keine Überraschung, dass bereits 70 % der Marketingteams KI-generierte Videos fest in ihre Content-Strategien integrieren. Für den professionellen Bildgestalter stellt sich die drängende Frage: Werden in Zukunft Autoren und Dichter die besseren Filmemacher sein?

Die Ethik der digitalen Entführung

Die wahre Brisanz der Technologie entfaltet sich dort, wo nicht mehr der eigene, sondern der Avatar eines anderen zum Protagonisten wird. Zwar hat OpenAI theoretisch Mechanismen implementiert, um die Darstellung von Politikern oder die Verletzung von Urheberrechten zu unterbinden, doch die Praxis offenbart deren Durchlässigkeit. In Tests ließen sich – angeblich – problemlos Videos mit Prominenten, Politikern und geschützten fiktiven Figuren wie SpongeBob Schwammkopf anfertigen. Wir konnten es selbst noch nicht ausprobieren, da die Sora-App hierzulande (noch) nicht verfügbar ist.

Sollte sich das bewahrheiten, wird aus dem vermeintlich harmlosen Spaß schnell eine Form der digitalen Entführung, ein ungewolltes Deepfake mit potenziell verheerenden Folgen für Reputation und Privatheit der „benutzten“ Person. Die Copyright-Fragen, die sich daraus ergeben, sind ebenso komplex wie die ethischen Implikationen. Wenn jeder jeden in jedes Szenario montieren kann, wo verläuft die Grenze der persönlichen Souveränität über das eigene Bild? OpenAIs Versprechen, auf Löschanfragen zu reagieren, ist ein reaktiver Ansatz für ein Problem, das eigentlich präventive Lösungen erfordert.

Die neue Hierarchie der Glaubwürdigkeit

Wenn bald allgegenwärtig, perfektionierter KI-Content entsteht, könnte das paradoxerweise eine neue Wertschätzung für das erkennbar Authentische nach sich ziehen. „Handgefilmt“ könnte zum Qualitätsmerkmal werden wie „selbstgebraut“ beim Craft Beer. Die sichtbare Unvollkommenheit – der Wackler der Kamera, ein amateurhafter Schnitt, das wenig perfekte Licht – werden zum Beweis des Echten, zum Luxusgut in einer glattpolierten Bilderflut.

Für Content Creators kristallisiert sich eine strategische Entscheidung heraus: Positioniert man sich als Prompt-Virtuose, der die KI zu nie gesehenen visuellen Höchstleistungen treibt? Oder als Authentizitäts-Purist, der bewusst auf KI-Unterstützung verzichtet und das Unperfekte zur Marke macht? Wahrscheinlich liegt die Zukunft für viele in einem hybriden Ansatz, der die Stärken beider Welten klug kombiniert.

Fazit: Die hyperreale Identität

Die Integration von KI-generierten Videos und Cameo-Avataren ist mehr als nur ein Werkzeug-Update; sie ist ein Paradigmenwechsel, der unsere Wahrnehmung von Identität, Wahrheit und Kreativität neu justiert. Für Profis in Fotografie und Bildbearbeitung bedeutet dies ein fundamentales Umdenken. Es geht nicht mehr nur um die Beherrschung von Technik, Licht und Komposition, sondern zunehmend um die Fähigkeit, narrative Konzepte in präzise, maschinenlesbare Sprache zu übersetzen.

Am Ende bleibt die Ironie, dass wir in einer Welt unbegrenzter visueller Möglichkeiten vielleicht mehr denn je nach dem suchen werden, was wir als „echt“ empfinden – auch wenn niemand mehr so genau sagen kann, was das eigentlich bedeutet. Oder wie es der Philosoph Jean Baudrillard bereits vor Jahrzehnten vorwegnahm: „Die Simulation ist (…) die Generierung eines Modells ohne Ursprung oder Realität: eines Hyperrealen.“ Willkommen in der Avatar-Gesellschaft.

Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

Kommentar

  1. Um Missverständnisse zu vermeiden: In der per KI nachgestellten Nixon-Rede ging es eigentlich nicht um eine gefälschte Mondlandung. Im Vorfeld der Apollo-11-Mission gab es naturgemäß die Befürchtung, das Projekt könnte scheitern und Armstrong und Aldrin auf dem Mond sterben. Solche Szenarien wurden damals auch in den Medien lang und breit erörtert. Nixon ließ sich eine Rede schreiben, auf die er hätte zurückgreifen können, wenn er sich nach einem möglichen Desaster der Mission an die amerikanische Öffentlichkeit hätte wenden müssen. Der Text dieser vorbereiteten Rede (https://www.archives.gov/files/presidential-libraries/events/centennials/nixon/images/exhibit/rn100-6-1-2.pdf) ist schon lange bekannt; er wurde zum 30sten Jubiläum der ersten Mondlandung veröffentlicht. NPR hat nun ein Video produziert, das im Stil der damaligen TV-Übertragungen (mit allen NTSC-Glitches) zeigt, was das Fernsehen im Fall eines Scheiterns der Mondlandung gezeigt hätte, inklusive Nixons nie gehaltener Rede. Wenn man es nicht aus eigenem Erleben besser weiß – ich hatte damals keine Minute der Live-Übertragung vom Mond verpasst –, könnte man nach Ansicht dieses Videos glauben, dass Armstrong und Aldrin tatsächlich nicht zurückgekehrt wären. (Collins hätte weiter den Mond umkreist, so lange es noch eine Chance zur Rettung seiner Kollegen gegeben hätte, und hätte dann alleine den Heimflug antreten müssen.)

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