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Adobes Dämmerung? Wie Canva mit Gratis-Software und KI das kreative Establishment herausfordert

Es gab eine Zeit, da war der Einstieg in die Welt der professionellen Bildgestaltung so exklusiv wie ein Club ohne Klingel. Wer in den frühen 2000er-Jahren als Grafiker reüssieren wollte, musste erst eine finanzielle Hürde überwinden, die sich gewaschen hatte: Adobes Grafik-Software-Paket, dessen Preis schnell vierstellig wurde, bestand mindestens aus Photoshop, Indesign und Illustrator. Die Botschaft des Marktführers aus San José war unmissverständlich: Echte Kreativität ist ein Privileg der Profis, für das man tief in die Tasche greifen muss. Ein Umstand, der viele Gelegenheitskreative dazu ermunterte sich die Software aus dunklen Kanälen zu „besorgen“.

Zehn Jahre später hat Adobe seine Kauf-Software relativ preiswerte Abo-Ware verwandelt. Heute, ein weiteres Jahrzehnt später, erleben wir die nächste Zäsur: Ein australisches Unternehmen namens Canva, das einst als simple Bastelstube für Social-Media-Grafiken belächelt wurde, verschenkt eine komplette professionelle Design-Suite: Affinity, der jahrelang als aussichtsreichster Herausforderer für alle galt, die Adobes Abo-Modell scheuten, ist seit Kurzem kostenlos. Ein Manöver, das auf den ersten Blick wie ein Akt der Verzweiflung anmutet, bei genauerer Betrachtung aber Teil eines kühl kalkulierten Angriffs auf Adobes Vormachtstellung ist. Wir wohnen aktuell dem vielleicht entscheidenden Kapitel im Kampf um die Zukunft der Kreativ-Software bei.

Die Revolution der Werkzeuge

Was Canva mit seinem sogenannten „Magic Studio“ auf den Markt wirft, ist eine Kampfansage an die traditionelle Komplexität professioneller Programme. Statt den Nutzer mit verschachtelten Menüs und unzähligen Paletten herauszufordern, setzt die Plattform auf radikale Vereinfachung durch künstliche Intelligenz. Die KI-Funktionen sind dabei direkt in den Arbeitsfluss integriert, was den ständigen Wechsel zwischen verschiedenen Spezialanwendungen überflüssig macht.

Funktionen wie „Magic Design“ fertigen auf Basis einer simplen Texteingabe oder eines hochgeladenen Bildes eigenständig Layout-Vorschläge an „Magic Write“ agiert als eine Art eingebauter Textassistent, der Überschriften oder ganze Absätze formuliert. Das Herzstück für visuell Arbeitende ist jedoch „Magic Media“, ein Text-zu-Bild-Generator. Zwar reicht die Qualität der Ergebnisse oft noch nicht an spezialisierte Dienste wie Midjourney heran, doch durch die Übernahme des Bild-KI-Spezialisten Leonardo.Ai im Juli 2024 hat Canva hier qualitativ einen erheblichen Schritt nach vorn gemacht. Die KI-gestützten Bearbeitungswerkzeuge gehen noch weiter: Mit „Magic Edit“ lassen sich Objekte in Fotos austauschen, während der „Magic Eraser“ sie spurlos entfernt. „Magic Expand“ erweitert den Bildausschnitt nahtlos, indem die KI den fehlenden Kontext dazu erfindet.

Trotz des beeindruckenden Funktionsumfangs zeigen sich in der Praxis die Grenzen. Für komplexe gestalterische Anforderungen, die eine präzise manuelle Kontrolle erfordern, sind die automatisierten Vorschläge oft noch unzureichend. Die Qualität der generierten Inhalte schwankt, und wer sich zu sehr auf die KI verlässt, riskiert generische, austauschbare Ergebnisse. Dennoch ist der grundlegende Vorteil unübersehbar: Aufgaben, die früher Stunden an Einarbeitung und Durchführung kosteten, sind nun eine Sache von Minuten.

Strategie statt Verzweiflung: Der Angriff auf das Monopol

Die Entscheidung, die leistungsfähige Affinity-Suite kostenlos abzugeben, ist kein Almosen, sondern ein trojanisches Pferd. Canva zielt nicht primär auf die etablierten Profis, die tief in Adobes Ökosystem verwurzelt sind. Die Zielgruppe ist der riesige „Long Tail“ des Marktes: Marketing-Teams in kleinen Unternehmen, Selbstständige, Lehrende und all jene, die schnell und ohne Design-Studium ansprechende visuelle Inhalte benötigen. Hier konkurriert Canva nicht mit Photoshop, sondern mit PowerPoint und dem leeren Blatt Papier.

Durch die Beseitigung jeglicher finanzieller Einstiegshürden für die Affinity-Programme wird eine riesige neue Nutzerbasis an das Canva-Ökosystem herangeführt. Die Strategie ist klar: Man gewöhnt die Anwender an die eigene, KI-gestützte Arbeitsweise und bindet sie über die nahtlose Integration aller Werkzeuge an die Plattform. Während Adobe mit Firefly auf fotorealistische Perfektion und die Bedürfnisse von High-End-Profis zielt (aber leider immer noch nicht ohne Hilfe Dritter auf Augenhöhe kommt), demokratisiert Canva den Zugang zu einem Design, das „gut genug“ für die breite Masse sein will.

Adobes Reaktion in Form von Adobe Express, das ebenfalls auf Ein-Klick-Anpassungen wie das Entfernen von Hintergründen setzt zeigt, dass man die Bedrohung in San José sehr ernst nimmt. Doch der Kampf wird nicht allein über Funktionen entschieden, sondern über die grundlegend andere Philosophie: Adobes Festung der Exklusivität gegen Canvas offenen Marktplatz der Möglichkeiten.

Was das für den Kreativ-Profi bedeutet

Für professionelle Gestalter, Fotografen und Bildbearbeiter wirft diese Entwicklung existenzielle Fragen auf. Wenn ein Kunde mit „Magic Design“ in fünf Minuten ein passables Logo oder eine anständige Präsentation fertigen kann, wozu braucht er dann noch einen Designer? Die Antwort liegt in einer Verschiebung des Berufsbildes. Routineaufgaben, die einen Großteil des gestalterischen Alltags ausmachten – das Freistellen von Objekten, das Anpassen von Formaten für Social Media, das Erstellen einfacher Layouts – werden zunehmend automatisiert oder vom Auftraggeber selbst erledigt.

Dies zwingt Profis dazu, ihren Mehrwert neu zu definieren. Er liegt nicht mehr primär in der Beherrschung komplexer Software, sondern in der strategischen und konzeptionellen Arbeit, die der KI vorausgeht. Markenstrategie, visuelle Leitideen, komplexe Bildkompositionen und die emotionale Aufladung einer Kampagne bleiben menschliche Domänen. Die KI wird zum Sparringspartner, der Ideen visualisiert und Varianten durchspielt, aber die kreative Führung behält der Mensch. Der Wert des Profis verschiebt sich vom Handwerker zum kreativen Direktor und strategischen Berater. Wer sich nur als Werkzeugbediener versteht, wird ersetzbar. Wer Kreativität als Problemlösung begreift, findet in den neuen Tools mächtige Verbündete.

Die Ära der unangefochtenen Herrschaft ist vorbei. Im Ringen um die kreative Zukunft gewinnt nicht mehr der Größte, sondern der Geschickteste. Adobe wird nicht untergehen, doch der Druck, die eigenen Produkte zugänglicher, intelligenter und preislich attraktiver zu gestalten, ist so hoch wie nie. Für Anwender, ob Profi oder Amateur, sind das exzellente Nachrichten.

Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

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