
Otto vollzieht einen radikalen Wandel in seiner Produktdarstellung. Der deutsche Onlinehändler verabschiedet sich von klassischen Modelshootings und setzt für seine Modebilder nun vollständig auf künstliche Intelligenz. Für diesen Schritt kommt das von der Konzerntochter one.O entwickelte Werkzeug „Movex Virtual Content Creator“ zum Einsatz, das die gesamte Bildproduktion übernimmt. Die Technologie ermöglicht es, aus einem einzigen Foto eines Kleidungsstücks binnen Minuten eine Vielzahl fotorealistischer Modelbilder zu generieren, die laut Unternehmen „täuschend echt“ wirken. Damit vollzieht der Hamburger Konzern einen entscheidenden Schritt zur Automatisierung der Content-Produktion, der die gesamte Branche vor neue Tatsachen stellt.
Der digitale Schneider
Der technische Vorgang dahinter ist von einer fast schon brutalen Effizienz. Ein Kleidungsstück – eine Bluse, eine Hose, ein Kleid – wird einmalig und unter einfachen Bedingungen fotografiert, oft liegend oder an einer simplen Schneiderpuppe. Dieses eine Bild dient als Rohmaterial für den Algorithmus. Die KI analysiert die Textur des Stoffes, den Schnitt, die Art des Faltenwurfs und die Reaktion auf Licht. Anschließend wählt sie aus einer Datenbank einen virtuellen Körper oder generiert einen neuen, der den demografischen Zielvorgaben wie Geschlecht, Alter oder Körperform entspricht. In einem rein digitalen Prozess wird das Kleidungsstück diesem Avatar angelegt. Die Software berechnet in Sekunden, wie der Stoff am simulierten Körper fällt, wo Schatten entstehen und wie Lichtreflexe auf der Oberfläche tanzen würden. Anbieter solcher Technologien locken mit einer Kostenersparnis von bis zu 60 Prozent. Der ökonomische Impetus für diesen Wandel ist also gewaltig.
Die alte und die neue Illusion
Die Modefotografie war seit jeher eine Meisterin der Inszenierung. Wer glaubt, die Bilder in den Hochglanzmagazinen der Neunzigerjahre hätten die Realität abgebildet, irrt gewaltig. Models wurden bis zur Unkenntlichkeit geschminkt, Kleider mit Wäscheklammern am Rücken auf Figur gezurrt, Hautunreinheiten wegretuschiert und Windmaschinen sorgten für die perfekt-lässige Haarsträhne. Die Fotografie war schon immer ein Werkzeug zur Formung einer idealisierten Wirklichkeit. Der entscheidende Unterschied zur neuen KI-Methode liegt jedoch in der Natur der Manipulation. Früher war die Illusion das Ergebnis eines Veredelungsprozesses – man nahm eine reale Szene und optimierte sie. Heute ist die Illusion bereits der Ausgangspunkt. Es wird nichts mehr optimiert, was existiert hat; es wird etwas vollkommen Neues aus dem Nichts erschaffen, das lediglich den Anschein von Realität erweckt. Die ethische Frage nach der Ehrlichkeit gegenüber dem Kunden verschiebt sich damit fundamental: Ging es früher darum, wie stark man die Wahrheit schönen darf, geht es heute darum, ob eine reine Simulation überhaupt noch einen Wahrheitsanspruch erheben kann.
Effizienz frisst Empathie
Diese technologische Verschiebung hat tiefgreifende soziale Konsequenzen. Stellen wir uns die soziale Choreografie eines klassischen Modeshootings vor: die Fotografin, die mit dem Model interagiert, um eine bestimmte Emotion hervorzurufen; der Stylist, der mit geübten Handgriffen den Sitz eines Kragens korrigiert; der Assistent, der im richtigen Moment den Reflektor hält. Es ist ein Prozess der Kollaboration, ein Zusammenspiel menschlicher Fähigkeiten, von Kommunikation und geteilter kreativer Vision. All diese Interaktionen, diese kleinen Momente des Austauschs und der gemeinsamen Problemlösung, werden durch den Algorithmus obsolet. Die Effizienz der Maschine ersetzt die Empathie und die Dynamik des Teams. Für eine ganze Branche aus Fotografen, Models, Visagisten und Produktionsfirmen bedeutet dies eine existenzielle Bedrohung. Zwar mögen neue Berufsfelder wie KI-Kuratoren oder virtuelle Set-Designer entstehen, doch der Verlust des menschlichen Miteinanders im kreativen Prozess ist ein hoher Preis für die gewonnene Geschwindigkeit.
Das Paradox der Pixel-Diversität
Eines der am häufigsten genannten Argumente für den Einsatz von KI-Models ist die Möglichkeit, auf Knopfdruck eine nie dagewesene Vielfalt abzubilden. Anstatt teure und aufwendige Shootings mit Models unterschiedlicher Ethnien, Körperformen und Altersgruppen zu organisieren, kann die KI jedes Kleidungsstück an einer unendlichen Vielfalt virtueller Körper präsentieren. Theoretisch könnte jeder Kunde das Produkt an einem Avatar betrachten, der ihm selbst gleicht. Doch diese Entwicklung birgt ein tiefes Paradox. Die Technologie, die Inklusion verspricht, führt gleichzeitig dazu, dass reale, nicht der lokalen Norm entsprechende Menschen im professionellen Umfeld nur als Datensatz repräsentiert sind. Statt echten Models mit unterschiedlichen Lebensgeschichten und Körpern eine Plattform und ein Einkommen zu bieten, greift man auf ihre digitalen Abbilder zurück. Die simulierte Vielfalt auf dem Bildschirm wird zum bequemen Alibi, während die Notwendigkeit, gelebte Repräsentation in der realen Produktionskette zu fördern, schwindet.
Der Tod des glücklichen Zufalls
Jeder Kreative kennt die unkontrollierbare Magie des Moments: ein unerwarteter Lichteinfall, eine spontane Geste des Models, ein kleiner Fehler, der sich als Geniestreich entpuppt. Oft sind es diese nicht planbaren Zufälle, die einem Bild seine Seele und seine Einzigartigkeit verleihen. Die algorithmische Bildgenese kennt diesen schöpferischen Zufall nicht. Sie operiert innerhalb von Wahrscheinlichkeiten und trainierten Mustern. Selbst wenn sie „zufällige“ Variationen einbaut, handelt es sich um eine berechenbare Form der Abweichung, nicht um einen echten Bruch mit dem Erwartbaren. Was verloren geht, ist das tatsächlich Unvorhergesehene, das menschlich Fehlerhafte, das eine sterile Abbildung von einer lebendigen Fotografie unterscheidet.
Die Entscheidung von Otto ist somit weit mehr als eine betriebswirtschaftliche Optimierung. Sie ist ein Symptom für einen fundamentalen Wandel in unserer visuellen Kultur. Die Frage ist längst nicht mehr, ob die KI die kommerzielle Bildproduktion verändert, sondern wie wir uns zu den Ergebnissen positionieren. Wenn das perfekte Bild keinen Bezug mehr zu einer physischen Realität hat, woran messen wir dann noch seinen Wert? Vielleicht liegt die Zukunft der Fotografie nicht in der Abwehr der Technologie, sondern in der bewussten Entscheidung, wann wir die berechenbare Perfektion der Maschine und wann wir die unvollkommene, aber lebendige Handschrift des Menschen suchen.








Naja…
Wenn ich entscheiden will, ob ich die grüne Hose, den gelben Pullover, die schwarzen Schuhe oder den weißen Hut kaufen möchte, sind mir ethisch-moralische Maßstäbe und künstlerische Ansprüche ehrlich gesagt schnurz.
Ich will sehen, wie das Kleidungsstück aussieht und DAS in möglichst guter Qualität und möglöichst detailliert. Wichtig(er) sind mir hier die möglichst genauen Beschreibungen, woraus das Material besteht, wie das Stück gewaschen werden darf und andere solcherat Informationen.
Der Artikel bezieht sich auf „nackte“ Produktfotografie – da ist die Zielgruppe eher wenig „Kunstbewusst“…
Insoweit kann ich der Betrübsamkeit und erst recht nicht dem mahnenden Zeigefinger nicht folgen.
Wenn der Artikel sich mit künstlerischer Fotografie befasst hätte (was dann wieder keinen Zusammenhang mit der Meldung über den Kleidungsverkäufer nix zu tun gehabt hätte), würde ich den vorgetragenen Bedenken eher folgen.
Insoweit: Thema verfehlt – oder zumindest unklar.
Davon abgesehen: Herzlich willkommen im Kapitalismus. SELBSTVERSTÄNDLICH nutzt der verrkäufer alle Möglichkeiten, seine Kosten zu senken. Und wenn ich zickige Models, Fotografen und „Beimenschen“ nicht zusätzlich durchfüttern muss, bin ich sehr einverstanden – von zwischenmenschlichen Ärgernissen bin ich dann zusätzlich verschont. Und die Arbeitsleistung („Effizenz“ und „Effektivität“) ist im gleichen Zuge auch noch besser als je zuvor.
Nix als Vorteile auf Seiten der Software.
Übrigens empfinde ich die ethisch-moralischen Einwände als ziemlich straffe Heuchelei – angesichts des Umstandes, dass sich das hiesige Magazin genau mit diesen Themen befasst: Wie kann ich schneller, leichter, „effizienter“ Bilder manipulieren oder gar komplett neu erschaffen. Die neuen „Tools“ werden doch allenthalben gepriesen, was das Zeug hält. Zweierlei Maßstäbe?
Nicht zu vergessen: Es ist eine ganz andere Nummer, wenn ich über (angeblich) tatsächliche Ereignisse berichte, als wenn ich etwas „darstellen“ möchte – hier: Wie sieht die Jacke aus, wenn sie „jemand“ anhat, wie wirkt sie.
Hier jammern über unmoralische Kostendrückerei und dann bei PRIMARK einkaufen gehen…?
DAS gefällt mir NICHT – das ist unmoralisch.
Danke, hat mir die Arbeit abgenommen meine fast identischen Argumente hier zu schreiben. Bis auf eine Ausnahme:
„Hier jammern über unmoralische Kostendrückerei und dann bei PRIMARK einkaufen gehen…?
DAS gefällt mir NICHT – das ist unmoralisch“
das finde ich unfair- oder weißt Du, dass der Autor dies tut?
Ich gestehe: Ich war noch nie bei Primark und habe das auch nicht vor.
Ich habe mal nachgeschaut, weil ich spontan nicht sagen konnte, wo es hier in Hamburg eine Primark-Filiale gibt – in Billstedt, aber da komme ich nie hin. Bei Dir in Lüneburg gibt es gar kein Primark; Du müsstest dafür schon nach Billstedt fahren.
Ich bitte um Entschuldigung für teilweises Kauderwelsch – ich hätte doch nochmal komplett lesen sollen vor dem Absenden…
.o(O.O)o.
Da gebe ich Detlef Jahn recht. Diese Art von Fotografie ist schlichte Gebrauchsfotografie und ein Kleiderkatalog hat wie ein Ikea-Möbelkatalog oder Produktefotografie allgemein kaum etwas mit Kunst zu tun.
Anstatt die Kleidungsstücke an einer simplen Schneiderpuppe zu präsentieren, werden sie hier einfach mit den neuen Möglichkeiten von KI vorgeführt.
Und was interessieren mich die unterschiedlichen Lebensgeschichten der Models, wenn ich mir ein Hose kaufen möchte?
Diese Katalogfotografie darf man nicht mit den Modestrecken in Beauty-Magazinen verwechseln. Dort ist manchmal noch eine künstlerische Absicht oder ein schöpferischer Zufall zu erkennen.
Den Unterschied zwischen einem Kleiderkatalog und einer Editorial-Modestrecke sehe ich natürlich auch. Aber ich befürchte, beim Einsatz der KI-Technik wird da in Zukunft kein Unterschied gemacht. Allein, weil die Entscheider bei den Medien dankbar dafür sein werden, denn sie stehen seit Jahren unter massivem Kostendruck.
Beim Niedergang der Fotografie denke ich zuletzt an den Otto Katalog.
Da blättere ich eher betrübt in alten FAZ Magazinen…