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Die Poetik des Ungesehenen

Die Hamburger Deichtorhallen inszenieren mit der Walther Collection eine Ausstellung, die dem Sehen misstraut – und dabei Gefahr läuft, die Fotografie selbst zu bevormunden.

Es ist ein Abschied mit Paukenschlag: Bevor die Walther Collection mit 6.500 Werken ihre finale Heimat im New Yorker Metropolitan Museum of Art findet, gastiert sie mit „INTO THE UNSEEN“ ein letztes Mal in Europa. Die Ausstellung in den Hamburger Deichtorhallen verspricht nicht weniger als eine Neudefinition des fotografischen Erlebens. Unter der kuratorischen Leitung von Nadine Isabelle Henrich und Tina Marie Campt soll das Feld des Sichtbaren überschritten werden, um das „Ungesehene“ – das Mystische, Verdrängte oder Sich-Entziehende – erfahrbar zu machen. Dafür werden, so das ambitionierte Versprechen, die „hörbaren, taktilen und emotionalen Register des Mediums“ aktiviert.

Die philosophische Kritik an der Dominanz des Sehsinns wird hier zur Blaupause für eine multisensorische Inszenierung: Besucher wandeln durch abgedunkelte Räume, in denen Bilder zu schweben scheinen, begleitet von subtilen Düften und umgeben von architektonischen Elementen aus geschwärztem Holz. Das Ziel ist die Überwindung des „distanzierten Betrachtens“ zugunsten eines Gefühls der „Einbettung“. Doch genau hier beginnt die eigentliche Reibung des Konzepts. Die Ausstellung wirft, vielleicht unbeabsichtigt, eine fundamentale Frage auf: Bedarf ein starkes Bild dieser Veredelung durch das Ambiente, oder wird ihm dadurch nicht eine eigene, inhärente Kraft abgesprochen?

Wenn das Konzept die Kunst umarmt

Die kuratorische Hand ist omnipräsent und will die Wahrnehmung lenken, wo sie vielleicht nur Raum bräuchte. Das zeigt sich exemplarisch an den stärksten Arbeiten der Schau. Santu Mofokengs Serie „Chasing Shadows“ etwa entfaltet ihre Wirkung durch eine meisterhafte Beherrschung der Grautöne und das subtile Spiel mit Schärfe und Unschärfe. Seine Bilder, die die Grenze zwischen Dokumentation und Imagination ausloten, fordern ein kontemplatives Sehen, das aus sich selbst heraus entsteht – nicht, weil der Raum abgedunkelt ist. Die politische Dimension seiner Porträts südafrikanischer Familien ist in der Fotografie selbst eingeschrieben und benötigt keine olfaktorische Untermalung.

Die Gefahr der kuratorischen Überinszenierung liegt darin, dass sie die Autonomie des Werkes untergräbt und dem Betrachter eine bestimmte Lesart aufzwingt, anstatt ihm das Vertrauen zu schenken, das Unsichtbare im Sichtbaren selbst zu entdecken.

Wo die Inszenierung aufgeht

Gleichwohl gibt es Momente, in denen Konzept und Werk eine überzeugende Symbiose eingehen. Dies gilt insbesondere dort, wo die Materialität und der prozessuale Charakter der Kunst im Vordergrund stehen. Munemasa Takahashis „Lost & Found Project“ ist ein solches Beispiel. Die Installation von rund 1.600 beschädigten Familienfotos, die nach der Tsunami-Katastrophe 2011 geborgen wurden, wird als „schwebende Bildformation“ im Raum inszeniert. Hier ist die Präsentationsform nicht bloßes Beiwerk, sondern integraler Bestandteil der Aussage. Die schiere Menge und die physische Zerstörung der Bilder machen den kollektiven Verlust auf eine Weise erfahrbar, die eine konventionelle Hängung nicht leisten könnte.

Das Bild genügt sich selbst

„INTO THE UNSEEN“ ist ein hochambitioniertes und intellektuell anregendes Experiment, das wichtige Fragen zur Zukunft der Ausstellungs- und Vermittlungspraxis aufwirft. Die Ausstellung führt eindrücklich vor, wie eine Sammlung kritisch befragt und neu kontextualisiert werden kann. Die These jedoch, die Fotografie müsse aus den Fesseln ihrer eigenen Visualität befreit werden, bleibt diskussionswürdig. Die stärksten Momente hat die Schau dort, wo die Fotografie sich selbst genügt und eindrucksvoll beweist, dass das Unsichtbare – das Spirituelle, das Politische, das Emotionale – schon immer in ihr wohnte. Auch ganz ohne Duftnote.

Ausstellung besuchen

Halle für aktuelle Kunst
Deichtorstr. 1–2, Hamburg
24. OKTOBER 2025 – 26. APRIL 2026
Dienstag – Sonntag 11−18 Uhr

Christoph Künne

Christoph Künne, von Haus aus Kulturwissenschaftler, forscht seit 1991 unabhängig zur Theorie und Praxis der Post-Photography. Er gründete 2002 das Kreativ-Magazin DOCMA zusammen mit Doc Baumann und hat neben unzähligen Artikeln in europäischen Fachmagazinen rund um die Themen Bildbearbeitung, Fotografie und Generative KI über 20 Bücher veröffentlicht.

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2 Kommentare

  1. Wenn man die Halle für moderne Kunst betritt (das Haus der Photographie, die zweite Deichtorhalle, ist ja noch für einige Zeit eine Baustelle und das Ausweichquartier, der Containerbau PHOXXI, mit einer anderen Ausstellung belegt), sieht man zunächst die Gemälde, Zeichnungen und andere Werke von Huguette Caland (1931–2019). Diese Ausstellung nimmt etwa zwei Drittel der Halle ein und wurde gleichzeitig mit „Into the Unseen“ am Donnerstag eröffnet. Die faszinierende Calland-Werkschau „A Life in a Few Lines“ war für mich eine Entdeckung und sie hat mich mehr überzeugt als die zerfahrene Präsentation der Walther Collection. Ja, für Santu Mofokeng lohnte sich der Besuch, und ebenso für das „Lost & Found Project“ – ich hatte seinerzeit, nach dem Tsunami, von diesem Projekt gehört, aber die Präsentation der Bilder – jener, die zu beschädigt waren oder deren Besitzer nicht ausfindig zu machen waren – vermittelt noch einmal einen ganz anderen, intensiven Eindruck. Damals hatte die positive Botschaft im Vordergrund gestanden, dass Menschen, die durch die Naturkatastrophe alles verloren hatten, ihre materiellen Erinnerungen zurückgegeben werden konnten. Ansonsten zeigt die Ausstellung ein bisschen dies und ein bisschen das, Neues wie Altes, selbst eine uralte Bewegungsstudie von Eadweard Muybridge ist dabei, und man blättert viel im ausliegenden Booklet, um überhaupt einen Zusammenhang herstellen zu können.

    Ich merkte wieder einmal, wie sehr das Haus der Photographie fehlt, das ganz andere Möglichkeiten geboten hätte als das Hinterzimmer der Halle für moderne Kunst. Die kleinere Deichtorhalle wird nun schon seit vier Jahren saniert und ihre Neueröffnung verzögert sich; die aktuelle Planung visiert einen Termin in drei Jahren an. Auch die Triennale der Photographie im nächsten Jahr wird noch auf das Provisorium PHOXXI angewiesen sein.

  2. War gestern auf der Verni und habe die letzte dunkle Ecke der Deichtorhalle überhaupt nicht verstanden. Es werden viele Fotos in einem dunklen Kabuff gezeigt. Eine völlig absurde Präsentation von vielen belanglosen zusammengewürfelten Fotos. UNSEEN ?! so what !

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