Die lebende Stadt: Urbane Fotografie als anspruchsvolles Seh-Abenteuer
Für Fotografie-Interessierte hält die aktuelle Ausstellung im Deutschen Technikmuseum Berlin ein faszinierendes Paradoxon bereit. „Die lebende Stadt“, zu sehen noch bis zum 27. September 2025 und Teil des European Month of Photography (EMOP), präsentiert 70 Fotografien von rund 50 Kunstschaffenden. Das Konzept, verantwortet vom Fotografierenden-Kollektiv Cadavre Exquis zielt auf ein innovatives Format, das sein Publikum herausfordert und bisweilen auch an Grenzen führt.
Das Konzept: Die Stadt als fotografisches Assoziationsspiel
Im Kern von „Die lebende Stadt“ steht das namensgebende Prinzip des „Cadavre Exquis“, jenes surrealistische Gesellschaftsspiel, bei dem mehrere Beteiligte nacheinander ein Werk fortführen, ohne die vorherigen Beiträge vollständig zu kennen. Übertragen auf die Fotografie, entsteht so eine Kette von Bildern, die assoziativ aufeinander reagieren. Ein initiales Bild gibt den Anstoß, woraufhin die folgenden Fotografien jeweils auf das unmittelbar vorhergehende Werk Bezug nehmen. Die Intention ist es, die Stadt als einen lebendigen, sich dynamisch wandelnden Organismus darzustellen, geformt durch unzählige Begegnungen und Interaktionen – eine Art visueller urbaner Dokumentation im Fluss.
Die Ausstellungsmacher versprechen eine immersive Erfahrung, bei der das Publikum eingeladen ist, die fotografischen Assoziationsketten nachzuvollziehen und gedanklich selbst zu ergänzen. Interaktive Stationen sollen es zudem ermöglichen, eigene Bildkompositionen zu entwickeln und so den eigenen Stadtbegriff spielerisch neu zu definieren. Die Idee, einen fotografischen Dialog dieser Art zu inszenieren, ist zweifellos reizvoll und verspricht eine Abkehr von konventionellen Präsentationsformen zeitgenössischer Fotografie.
Visuelle Kraft und intellektuelle Hürden
Trotz des innovativen Ansatzes und der ästhetischen Qualität der einzelnen Fotografien offenbart das Konzept bei genauerer Betrachtung einige Tücken. Die größte Herausforderung für das Publikum dürfte in der Komplexität des assoziativen Spiels liegen, das den roten Faden der Ausstellung bildet. Die Fotografien sind abstrakt gehalten, die visuellen oder thematischen Verbindungen zwischen ihnen erschließen sich selten unmittelbar. Besuchender berichten, dass sie erst nach dem Studium der ausführlichen „Bedienungsanleitung“, die am Eingang bereitliegt, ein tiefergehendes Verständnis für die intendierten Assoziationen und die Gesamtstruktur gewinnen konnten.
Ein weiteres prägnantes Element der Ausstellung ist die vorgegebene Blickführung. Die Kuratoren haben einen klaren Pfad durch die Bildsequenzen angelegt, der das Publikum durch die verschiedenen thematischen Bereiche leiten soll. Diese Führung mag zwar eine narrative Struktur unterstützen und interessante Perspektivwechsel ermöglichen, man kann sie jedoch auch als anstrengend und restriktiv empfinden. Die Notwendigkeit, sich intensiv auf jede einzelne Fotografie und deren oft nur subtile Verbindung zur nächsten zu konzentrieren, erfordert ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Durchhaltevermögen. Wenn die Bezüge zwischen den Arbeiten nur in Einzelfällen klar zutage treten, kann der Ausstellungsbesuch zu einer intellektuellen Geduldsprobe werden.
Fazit: Lohnt sich der Denksport für Fotografie-Kenner?
„Die lebende Stadt“ ist unbestreitbar ein visuell ansprechendes und intellektuell stimulierendes Projekt, das die Grenzen traditioneller Fotoausstellungen auslotet. Das Konzept, urbane Realität als Ergebnis eines kollektiven fotografischen Dialogs zu präsentieren, ist innovativ und bietet eine frische Perspektive auf das Medium Fotografie und das Sujet Stadt. Allerdings ist die Ausstellung kein Selbstläufer. Sie verlangt vom Publikum eine aktive Auseinandersetzung und die Bereitschaft, sich auf ein komplexes Regelwerk einzulassen.
Wer bereit ist, sich auf die intellektuelle Herausforderung einzulassen und die „Bedienungsanleitung“ als integralen Bestandteil des Erlebnisses zu akzeptieren, wird mit einer vielschichtigen und zum Nachdenken anregenden Auseinandersetzung mit urbaner Fotografie belohnt. Wer eher konventionelle Vorstellungen von einer Ausstellung mitbringt, ist hier vermutlich fehl am Platz.