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Buchtipp: A History of Pictures

In einem 349 Seiten langen Dialog diskutieren der Maler David Hockney und der Kunstkritiker Martin Gayford spannende Themen aus der vielgestaltigen Welt der Bilder.

Ich mag Museumsshops. Nicht alle gleichermaßen natürlich. Manche sollen vor allem Merchandising-Produkte an den Museumsbesucher bringen – exit through the gift shop, vorbei an Kaffeebechern, Socken, Geschirrtüchern und Mauspads, bedruckt mit den populärsten Bildern aus der Sammlung des jeweiligen Museums. Dagegen ist nichts zu sagen; ich nutze selbst ein Mauspad mit Sandro Botticellis Porträt der Simonetta Vespucci und stehe dazu. Spannender ist es aber, in Läden zu stöbern, die von Buchhändlern betrieben werden. Zu meinen Favoriten zählen die im Berliner Gropius Bau und im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe (MK&G), die zufällig beide zur Buchhandlung Walther König gehören.

A History of Pictures in der Ausgabe von 2020

Im Shop des MK&G stieß ich jüngst auf ein schon ein paar Jahre altes Buch, das ich seltsamerweise bisher übersehen hatte: A History of Pictures von David Hockney und Martin Gayford, erschienen bei Thames & Hudson. Die erste Ausgabe war von 2016; 2020 folgte eine erweiterte Ausgabe, die jetzt bereits auf dem Grabbeltisch lag. Nur noch 14,90 Euro? Da genügte mir der Name „David Hockney“, um blind zuzugreifen. Wie ich später feststellte, gibt es auch eine deutsche Übersetzung (Welt der Bilder) aus dem Sieveking Verlag, basierend allerdings auf der älteren Ausgabe.

Wie der Titel besagt, geht es um Bilder, wie sie Menschen in den letzten zigtausend Jahren produziert haben. Also nicht ausdrücklich um Kunst und Malerei, vielmehr um alle Arten von Bildern, was digitale Kunst, Fotografie und auch die bewegten Bilder des Films mit einschließt: „pictures …, by which we mean representations of the three-dimensional world on flat surfaces such as canvas, paper, cinema screens and smartphones“. Ausgeschlossen bleibt hingegen die Abstraktion, denn Bilder, wie Hockney und Gayford sie verstehen, sind immer Abbildungen von etwas.

Any picture is an account of looking at something. (…) The first person to draw a little animal was watched by someone else, and when that other person saw that creature again, he would have seen it a bit more clearly. That’s true of the bull painted in a cave in southwestern France 17,000 years ago. The image was that artist’s testimony, made on a surface, of seeing this creature, not the thing itself. That’s all a picture can be.

David Hockney

Die Autoren David Hockney und Martin Gayford – der eine malt, der andere nicht – haben ihre profunden Kenntnisse der Kunstgeschichte gemeinsam. David Hockney ist zudem einer der reflektiertesten Künstler unserer Zeit, und seine Analysen der Werke Anderer sind immer erhellend. Bildinterpretationen laufen sonst oft auf eine Küchenpsychologie hinaus, auf Spekulationen über Befindlichkeiten des Künstlers, die vermutlich in die Irre gehen. (Ich las einmal über Gemälde aus einer bestimmten Schaffensperiode Max Beckmanns, die schwarzen Konturen der Motive deuteten auf seine depressive Grundstimmung zu dieser Zeit hin …) Hockney geht dagegen von rational denkenden Künstlern aus, die sich eine Aufgabe stellen und sie mit ihren jeweiligen Mitteln lösen, und er analysiert, wie sie dabei vorgegangen sind. Er kann das, weil er selbst schon vor denselben Aufgaben gestanden hat und die damit verbundenen Herausforderungen kennt.

Es macht Spaß, den beiden Autoren durch 18 Kapitel dabei zu folgen, wie sie sich im Dialog die Bälle zuwerfen. Vermutlich wird jeder, der sich für Bilder interessiert – wovon man bei DOCMA-Lesern ja ausgehen kann –, darin etwas Spannendes, noch nicht Bekanntes entdecken.

Im Kapitel Making Marks beispielsweise geht es darum, wie aus wenigen, einfachen Strichen das Bild eines Gesichts oder einer Landschaft entstehen kann, wofür man insbesondere in der chinesischen Kunst Beispiele findet. Hockney zeigt sich beeindruckt von der Ökonomie der Mittel, mit der auch im Westen manche Maler arbeiten, und führt Edvard Munch als Beispiel an. Auch die Zeichnungen Rembrandts (von dem er vermutet, dass er Werke chinesischer Künstler kannte) bewundert er.

Buchtipp: A History of Pictures
Rembrandt: Ein Kind lernt laufen (1656)

In dieser Zeichnung hat Rembrandt jedes der Familienmitglieder mit nur wenigen Strichen skizziert, die uns dennoch viel über die Personen verraten. Die Mutter hat die kleine Tochter fest im Griff; die größere Schwester ist vorsichtiger und wendet sich dem Kind zu. An der Drehung von Schulter und Kopf erkennen wir, dass sie der Schwester ins Gesicht schaut, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist. Links hockt der Vater und schaut gelassen zu. Dass die Milchkanne, die die Magd trägt, voll und daher sehr schwer ist, zeigt der lang gestreckte rechte Arm und die Haltung von Schulter und linkem Arm, den sie zum Gewichtsausgleich anhebt.

Ein Thema, das Hockney schon in Secret Knowledge (2001) behandelt hatte, wird in A History of Pictures erneut aufgegriffen, nämlich die Wechselwirkungen zwischen optischen Abbildungen und der Malerei, die älter als die um 1830 erfundene Fotografie sind. Instrumente wie die Camera Obscura und die Camera Lucida konnten schon früher Bilder erzeugen, wovon sich auch Künstler anregen ließen. Als der Philosoph John Locke beschreiben wollte, wie die Ideen im menschlichen Geist entstehen, wählte er als Gleichnis die Camera Obscura und nahm dabei die Fotografie vorweg: „Would the pictures coming into such a dark room but stay there, and lie so orderly as to be found on occasion, it would very much resemble the understanding of man, in reference to all objects of sight, and the ideas of them“ (An Essay Concerning Human Understanding, 1690). Dieser letzten Schritt der fotografischen Abbildung, nämlich die mit optischen Mitteln erzeugten Bilder auf chemischem Wege dauerhaft zu fixieren, gelang erst Joseph Nicéphore Niépce, William Fox Talbot und Louis Daguerre, rund 40 Jahre später.

Buchtipp: A History of Pictures
Die Kamera war im 18. Jahrhundert längst erfunden, nur konnte man ihre Bilder noch nicht festhalten. (Charles Amédée Philippe van Loo: Die Camera Obscura, 1764)

Manche vermeintlich neue Errungenschaft der Fotografie ist älter als gedacht. Um 1860 entstanden viele Fotos, die Innenansichten mit einem Ausblick durch Fenster kombinierten. Solche Kontraste sind selbst heute nicht so einfach zu bewältigen, und die damals verwendeten Emulsionen konnten es schon gar nicht. Die Fotografen kombinierten daher zwei unterschiedliche Belichtungen, nahmen also die Technik vorweg, die Aufnahmen einer Belichtungsreihe zu einem HDR-Bild zu verrechnen.

Buchtipp: A History of Pictures
Henry Peach Robinson: Fading Away (1858)

Die meisten Fotografen lehnten diese Technik allerdings ab; das Ergebnis sei eine Montage und damit keine echte Fotografie – Debatten, wie man sie ganz ähnlich auch aus unserer Zeit kennt. Die Bildbearbeitung begann eben nicht erst mit Photoshop.

Hockney und Gayford gehen auch auf ein Thema ein, über das ich hier schon einmal geschrieben hatte: Gemälde und Zeichnungen, die nach Fotos entstanden sind, behalten oft den typischen Charakter einer Fotografie.

Buchtipp: A History of Pictures
Edgar Degas: Place de la Concorde (1875)

Edgar Degas, nicht nur Maler, sondern auch Fotograf, hatte die Menschen auf dem Place de la Concorde zwar in Öl gemalt, aber die Bildkomposition lässt an einen Schnappschuss denken, wie er dem Bild tatsächlich zugrunde lag.

Die Wirkung der Fotografie auf die bildende Kunst war so stark, dass sie den Malern als visuelle Wahrheit erschien, der sie mit ihren Mitteln nacheifern wollten. Jean-Léon Gérômes Die Wahrheit steigt aus dem Brunnen, mit ihrer Peitsche bewaffnet, um die Menschheit zu züchtigen (1896) bezog sich ausdrücklich darauf: „Fotografie ist eine Kunst. Die Fotografie zwingt Künstler, die alten Routinen aufzugeben und die alten Formeln zu vergessen. Sie öffnete unsere Augen und zwang uns, auf das zu schauen, was wir noch nie zuvor gesehen hatten, damit leistete sie der Kunst einen beträchtlichen und unschätzbaren Dienst. Es ist ihr zu verdanken, dass die Wahrheit endlich aus ihrem Brunnen kam. Sie wird nicht mehr dorthin zurückkehren.“ In der Folge verschwanden sichtbare Pinselstriche aus der akademischen Malerei, die nun als Makel empfunden wurden, aber letztendlich setzten sich die Impressionisten durch, und mit ihnen kamen auch die Pinselstriche zurück.

Das ist nur eine kleine, wahllose Auswahl aus der Vielzahl von Themen, die in A History of Pictures behandelt sind. Abstraktion oder Konzeptkunst hin oder her, die Geschichte der Bilder wird weitergehen, zeigt sich David Hockney überzeugt:

People like pictures. They won’t go away. … Drawing and painting will carry on, like singing and dancing, because people need them. I’m quite convinced that painting will be big in the future. If the history of art and the history of pictures diverge, the power will be with the images. (…) Does art progress? Not many really think it does, do they? But why does art need to go anywhere? Art hasn’t ended, and neither has the history of pictures. People get the idea from time to time that everything is finishing. It doesn‘t end at all; it just goes on and on and on.

David Hockney

Abschließend hinzuzufügen ist noch – denn selbstverständlich ist es leider nicht –, dass die gezeigten Bilder in einer vernünftigen Größe und in hoher Qualität abgedruckt sind. Man kann also nachvollziehen, worüber die Autoren reden. Es steht zu vermuten, dass dasselbe für die deutsche Ausgabe gilt; das Layout zumindest scheint mit dem der englischen Ausgabe identisch zu sein.


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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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