Ausstellungstipp: Rendezvous der Träume – Surrealismus und deutsche Romantik
Die Kunst des Surrealismus ist so populär, dass das Adjektiv „surreal“ Eingang in die Umgangssprache gefunden hat, aber wer den Surrealismus und die dahinter stehenden Ideen wirklich verstehen will, sollte die aktuelle Ausstellung der Hamburger Kunsthalle nicht verpassen.

Man könnte naiverweise annehmen, dass die Kunstgeschichte einfach ein Schrank mit lauter Schubladen wäre, von großen Epochen wie der Renaissance und dem Barock bis zu den verschiedenen -Ismen der letzten 150 Jahre. Tatsächlich gibt es aber weder eine strikte Abfolge, noch sind alle künstlerischen Richtungen vergleichbar. Der Abstrakte Expressionismus und der Tachismus beispielsweise sind allein Erscheinungen innerhalb der Malerei, während der Kubismus ebenso die Plastik inspirierte. Einen Impressionismus gab es auch in der Musik und einen Expressionismus in der Literatur und im Tanz. Der Jugendstil war eine Bewegung, die Malerei, Grafik, Plastik, Architektur und Design erfasste. Hinter manchen Kunstrichtungen steht eine geistige Einstellung, die sich in allen möglichen kreativen Ausdrucksformen äußerte, und das gilt für den Surrealismus ebenso wie für die Romantik, denen die neue Blockbuster-Ausstellung der Hamburger Kunsthalle gewidmet ist: Rendezvous der Träume – Surrealismus und deutsche Romantik wurde am vergangenen Donnerstag eröffnet und kann noch bis zum 12. Oktober besucht werden.
Surrealismus und deutsche Romantik? Bei dieser Zusammenstellung könnte man argwöhnen, die Hamburger Kunsthalle wolle aus einer Not eine Tugend machen, denn während sie zwar einige Werke des Surrealismus in ihrer Sammlung hat, ist sie in diesem Bereich doch nicht so breit und hochkarätig aufgestellt wie in dem der deutschen Romantik, mit mehreren der wichtigsten Werke von Caspar David Friedrich und Philipp Otto Runge. Doch Annabelle Görgen-Lammers, die Kuratorin der aktuellen Ausstellung, wusste, was sie tat. Sie ist die Surrealismus-Expertin der Kunsthalle und war auch schon 2005 an Begierde im Blick, einer Ausstellung zur surrealistischen Fotografie beteiligt.
André Breton (1896–1966), der Kopf der surrealistischen Bewegung, war von Anfang an von deutschen Romantikern wie Achim von Arnim und Novalis beeinflusst. Novalis (Friedrich von Hardenberg) schrieb 1798, „Die Welt muß romantisirt werden. So findet man den urspr[ünglichen] Sinn wieder. Romantisieren ist nichts, als eine qualit[ative] Potenzirung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identificirt. […]. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es“, wie es in modernisierter Sprache auch ein Surrealist hätte sagen können. Wenn der Romantiker Friedrich Schlegel das Wesen des Witzes als künstlich herbeigeführte Koexistenz von ursprünglich nicht Zusammengehörigem beschreibt, erinnert das an Lautréamonts (1846–1870) Charakterisierung „schön wie das zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“, die geradezu die Definition der surrealistischen Kunst ist. Recht absurd wirkt dagegen, wie die Romantik in Nazideutschland gleichzeitig im Sinne einer Blut-und-Boden-Ideologie umgedeutet wurde.
Als Bindeglied stützt sich das Ausstellungskonzept vor allem auf Max Ernst, den auch durch die deutsche Romantik geprägten Rheinländer, der 1922 nach Paris umgesiedelt war. Mehrere seiner in Frankreich entstandenen surrealistischen Bilder griffen Motive von Malern wie Caspar David Friedrich auf:
Es überrascht daher nicht mehr, dass Caspar David Friedrichs Kunst den Franzosen erstmals 1939 durch einen Artikel Madeleine Landsbergs in der surrealistischen Zeitschrift Minotaure („Caspar David Friedrich. Peintre de l’angoisse romantique“) nahegebracht wurde. Auch der britische Surrealist Paul Nash griff 1940/41 mit Das Eismeer ein Motiv Caspar David Friedrichs auf, wobei er Friedrichs Eisschollen durch Trümmer von Flugzeugen der deutschen Luftwaffe ersetzte:
Ein weiterer möglicher Bezug scheint den Kuratoren entgangen zu sein: Philipp Otto Runges Die Hülsenbeckschen Kinder, das die drei Kinder von Runges Freunden vor ihrem Sommerhaus in Hamburg-Eimsbüttel zeigt (im Hintergrund sind die Türme von Hamburgs Hauptkirchen zu erkennen), ist in der Ausstellung zu sehen, und hier hätte man auf Maurice Sendak verweisen können, der Motive dieses Gemäldes in Outside Over There (Als Papa fort war) von 1981 zitiert hat.
Die Kunsthalle präsentiert 250 Leihstellungen, unter anderem des Centre Pompidou, und darunter natürlich die üblichen Verdächtigen, neben Max Ernst auch René Magritte, Salvador Dalí, Giorgio de Chirico und Man Ray, aber auch nicht ganz so bekannte Surrealisten und Surrealistinnen wie Victor Brauner, Jane Graverol, Valentine Hugo und Toyen (Marie Čermínová) – der tschechischen Surrealistin hatte die Kunsthalle bereits eine große, ebenfalls von Annabelle Görgen-Lammers kuratierte Einzelausstellung gewidmet.
Der Spannbreite der Ausstellung und der Zahl der präsentierten Werke entsprechend benötigt sie viel Raum. Man beginnt den Rundgang im Hubertus-Wald-Forum im Altbau der Kunsthalle, das dem Thema Traum gewidmet ist; von dort gelangt man über eine Treppe, das Café Liebermann und die Passage (die Assoziation zu Walter Benjamins zur gleichen Zeit und ebenfalls in Paris entstandenem Passagenwerk ist beabsichtigt) in die Abteilung Wald, in der man Creatures of the Night aus Romantik und Surrealismus begegnet, woran sich eine Installation in der Rotunde anschließt. Im Treppenhaus wird der Film Un chien andalou von Luis Buñuel und Salvador Dalí präsentiert, wie heutzutage üblich mit einer Triggerwarnung (das zerschnittene Auge!), und eine Etage höher im Kuppelsaal erreicht man mit Kosmos den dritten und letzten Teil der Ausstellung.
Rund drei Stunden Zeit sollte man einplanen, wenn man der Ausstellung gerecht werden will; dann kann man zwischendurch auch noch im Café Liebermann, in dem man ja sowieso vorbei kommt, eine Kleinigkeit essen und trinken. In der Passage hat man Gelegenheit, in Büchern (auch Kinderbüchern) zum Thema zu schmökern und surrealistische Techniken wie die Frottage oder Cadavre Exquis selbst auszuprobieren.
Dort sind auch Gedichte von Meret Oppenheim ausgestellt, die Mitte der 80er Jahre, kurz vor ihrem Tod, von Bettina von Arnim (1785–1859) und Karoline von Günderrode (1780–1806) inspirierte Werke geschaffen hat – die dazu gehörigen Gemälde sind in der Abteilung Traum zu sehen. Darin erweist sich das Zusammenspiel von Romantik und Surrealismus noch einmal, rund 50 Jahre nach der Hochzeit der Surrealisten, als unverändert produktiv.