Nackt vor der KI: Wenn der Algorithmus von Photoshop die Kunst züchtigt

Der Fortschrittsbalken des Generative-Fill-Dialogs hat sein Ziel fast erricht. Auf dem Monitor eine Aktstudie, ein Spiel aus Licht und Schatten auf menschlicher Haut, die auf ihre Formaterweiterung wartet. Doch statt der gewohnten Werkzeugpalette begegnet mir eine sterile Dialogbox, deren höfliche Ablehnung wie Hohn wirkt: Die Bearbeitung sei nicht möglich, da das Bildmaterial gegen Nutzungsrichtlinien verstoßen könnte. Ein unsichtbarer, unbestechlicher Zensor hat in meiner Software Stellung bezogen. Ausgerechnet in Photoshop, jenem digitalen Skalpell, das seit Jahrzehnten die Bildbearbeitung definiert, werde ich nun mit einer algorithmisch verordneten Moral konfrontiert.

Die Darstellung des nackten Körpers ist kein Randphänomen, sondern ein zentraler Pfeiler der Kunstgeschichte, von den Fresken Pompejis über Tizian und Ingres bis zu den fotografischen Pionieren wie Eugène Durieu. Sie ist ein Seismograph für gesellschaftliche Konventionen und deren Brüche. Doch während sich Künstler über Jahrhunderte an realen Zensoren und prüden Mäzenen rieben, steht der Bildschaffende von heute einem neuen, weitaus abstrakteren Gegner gegenüber: einem Algorithmus, der weder den kunsthistorischen Kontext kennt noch zwischen einer pornografischen Darstellung und einer Fine-Art-Komposition zu unterscheiden vermag.
Die Wurzeln der digitalen Prüderie
Die neuen KI-gestützten Photoshop-Funktionen, die unter Namen wie „Generative Füllung“ oder „Neuronale Filter“ Einzug gehalten haben, versprechen eine Revolution der Arbeitsabläufe. Doch bei der Konfrontation mit dem unverhüllten menschlichen Körper kapitulieren sie. Der Versuch, den Hintergrund einer Aktfotografie für eine Galerieausstellung zu erweitern oder subtile Hautretuschen vorzunehmen, endet abrupt. Die Ursache dieses digitalen Anstands liegt tief in der Architektur der Systeme selbst. Modelle wie Adobes Firefly werden mit riesigen Datenmengen trainiert, die vornehmlich aus kommerziellen Bilddatenbanken wie Adobe Stock stammen.
Diese Datenpools sind oft jedoch bereits das Ergebnis eines rigiden Filterprozesses, der sehr viele mit U.S.-amerikanischen Religions- und Moralvorstellungen zu tun hat. Um rechtlichen Risiken vorzubeugen und den kleinsten gemeinsamen Nenner gesellschaftlicher Akzeptanz zu treffen, werden Inhalte, die als heikel gelten könnten, von vornherein aussortiert. Die KI lernt also nicht an der unendlichen Vielfalt menschlichen Ausdrucks, wie sie sich in den Museen und Archiven der Welt findet, sondern an einem bereits bereinigten, kommerziell optimierten Abbild der Wirklichkeit. Ihre „Ethik“ ist keine erlernte, sondern eine einprogrammierte, die sich aus unternehmerischer Risikovermeidung speist. Das Resultat ist eine künstliche Intelligenz mit einer künstlichen Moral, die künstlerische Freiheit als Kollateralschaden in Kauf nimmt.
Kunstgeschichte gegen Binärcode
Diese algorithmische Engstirnigkeit, die man nun auch in Photoshop beobachten kann, führt zu einer bizarren Umkehrung der Verhältnisse. Während die KI die Bearbeitung fast jeder Aktfotografie verweigert, hat sie oftmals keine Probleme damit, für die Erzeugung synthetischer Deepfakes missbraucht zu werden. Der authentische, verletzliche menschliche Körper wird tabuisiert, während der artifizielle, hyperperfekte und potenziell manipulative Avatar freie Bahn hat. Hier offenbart sich die ganze Paradoxie einer Technologie, die zwar Pixel, aber keinen Kontext erkennt.
Die Geschichte ist voll von Kämpfen um die Darstellung des Nackten. Als Gustave Courbet 1866 „Der Ursprung der Welt“ malte, war das Werk für Jahrzehnte nur im Verborgenen zu sehen. Als Robert Mapplethorpes Fotografien in den 1980er-Jahren ausgestellt wurden, führte dies zu Gerichtsprozessen und einer landesweiten Debatte über Kunstfreiheit in den USA. Diese Auseinandersetzungen waren hart, aber sie wurden von Menschen geführt, mit Argumenten und im Lichte der Öffentlichkeit. Der heutige digitale Zensor hingegen urteilt im Stillen, ohne Begründung und ohne Berufungsinstanz. Sein Urteil ist ein binäres „Ja“ oder „Nein“, das keinen Raum für Nuancen lässt.
Die absurden Blüten der Praxis
Für Fotografen und Photoshopper gerät der Arbeitsalltag zur Farce. Es entwickeln sich digitale Verhüllungsstrategien, die an Absurdität kaum zu überbieten sind: Bilder werden in veralteten Software-Versionen ohne KI-Anbindung vorbereitet. Für den Einsatz der neuen Werkzeuge werden auf separaten Ebenen provisorische Kleidungsstücke montiert, nur um sie nach getaner KI-Arbeit wieder zu entfernen. Ein umständlicher Akt der Selbstzensur, um die Maschine auszutricksen.
Gleichzeitig beobachten wir, wie Institutionen, die eigentlich Hüter der Kunstgeschichte sind, zu absurden Mitteln greifen müssen. Das Wiener Tourismusbüro, das die nackten Meisterwerke seiner Museen auf Plattformen wie Instagram nicht mehr zeigen durfte, wich auf OnlyFans aus – eine Plattform, die primär mit Erotik assoziiert wird. Die Kunst flieht vor der Prüderie der Mainstream-Algorithmen in eine Nische, die sie erst recht in ein falsches Licht rückt. Was würde Peter Paul Rubens wohl dazu sagen, dessen üppige Akte heute reihenweise durch die Raster der Inhaltsmoderatoren fallen?
Ausblick: Dialog statt Diktat
Die aktuelle Situation ist mehr als nur ein technisches Ärgernis. Sie ist ein Symptom dafür, dass wir die Deutungshoheit über unsere visuelle Kultur schleichend an private Technologiekonzerne und deren intransparente Regelwerke abtreten. Wenn die Werkzeuge, die wir zur Erschaffung von Bildern nutzen, bereits eine moralische Vorauswahl treffen, wird nicht nur die Arbeit erschwert, sondern auch der Korridor des Sag- und Zeigbaren verengt.
Doch es gibt Hoffnungsschimmer. Andere Software-Anbieter beginnen, differenziertere Wege zu beschreiten, und auch innerhalb der Adobe-Community wächst der Druck, Lösungen wie Verifizierungsoptionen für professionelle Anwender zu implementieren, die zwischen künstlerischer Arbeit und missbräuchlicher Nutzung unterscheiden können.
Letztlich wird die Kunst immer einen Weg finden. Sie ist erfinderisch im Umgehen von Hindernissen. Doch wir sollten uns fragen, ob wir unsere Energie auf solche Umwege verwenden wollen, anstatt sie in den kreativen Prozess selbst zu investieren. Es ist an der Zeit, von den Entwicklern nicht nur leistungsfähigere, sondern auch klügere, kontextsensitivere Werkzeuge zu fordern. Denn Technologie sollte der Kunst als befreiende Kraft dienen, nicht als digitaler Tugendwächter. Die Freiheit der Kunst ist zu wertvoll, um sie dem Urteil eines Algorithmus zu überlassen.








Adobe zeigt, wie’s geht: Erst Regeln erfinden, dann die Arbeit verunmöglichen – Doppelmoral in 4K. Gleichzeitig rennen die gleichen Prozesse auf dem iPad Pro (M4/M5) locker durch. Ja, mit winzigen Abstrichen. Überraschung: Procreate und Luminar schaffen dutzende druckfertige Motive (auch mit Haut), ohne mich mit Moral-Popups zu therapieren. Mein digitaler Mittelfinger? Einfach: nicht nutzen, nicht kaufen. Ich bin volljährig – ich lasse mir nicht von einer Softwareschmiede diktieren, welche Bilder ich anfassen darf.
Gruß
Mario.
Ganz genau,… gut gesagt und auf den Punkt gebracht.
Jürgen
Eine hervorragende Analyse eines bedenklichen Ärgernisses. Das geschilderte Beispiel zeigt deutlich die Kehrseite der KI-Medaille.
Als langjähriger Nutzer von Photoshop fühle ich mich in Geiselhaft. Leider ist der Ausstieg aus Adobe und der Umstieg auf eine andere Software eine illusorische Pseudo-Alternative. Früher oder später manövrieren alle in gleiche Fahrwasser (vgl. die sogenannten ‚Abo-Modelle‘).
Gerade auf der offiziellen Procreate-Website steht ausdrücklich, dass es kein Abo gibt und die Apps als Einmalkauf angeboten werden. Bei luminar steht für die Version die ich nutze: Lifetime-Kauf als Einmalzahlung. Natürlich gibt es eine Option als Abo, aber die muss man nicht nutzen. Und ehrlich gesagt, ich bin mit der Software mehr als zufrieden. Daher ist PS schon lange nicht mehr der Mittelpunkt der grafischen Entwicklung.