Der Hannoveraner Fotograf Ralf Mohr hat die radikale Bewegungssprache des Choreografen Marco Goecke in Bilder übersetzt. Eine Arbeit an den Grenzen des technisch Machbaren. Wir sprachen mit ihm über manuelle Fokussierung bei Höchstgeschwindigkeit, ISO-Werte jenseits der Vernunft und die Kunst in der Tanzfotografie, den entscheidenden Moment nicht nur zu sehen, sondern zu fühlen.

DOCMA: Ralf, du hast dich über Jahre intensiv mit der Fotografie von Marco Goeckes Choreografien befasst. Technisch betrachtet ist das eine der anspruchsvollsten Disziplinen überhaupt. Was sind die fundamentalen Hürden, wenn man versucht, diese extreme Dynamik in statischen Bildern festzuhalten?
Ralf Mohr: Die größte Herausforderung in der Tanzfotografie ist zweifellos die Kombination aus Licht und Bewegung. Was auf der Bühne auch herrscht ist kein Licht. Die Stücke sind oft extrem dunkel.
Da wird’s schwierig mit der Lichtmalerei. Dazu kommt die Bewegungssprache von Marco Goecke, die von einer unglaublichen Geschwindigkeit und abrupten, zuckenden Bewegungen geprägt ist. Man arbeitet permanent unter Bedingungen, die jede Automatik an ihre Grenzen bringen. Ich nutze Nikon-Kameras mit lichtstarken Objektiven, aber selbst damit muss ich die ISO-Empfindlichkeit oft auf Werte bis 25.600 hochschrauben. Das bedeutet, man balanciert permanent an der Kante des technisch noch Vertretbaren, was das Bildrauschen angeht.
DOCMA: Das klingt, als wären Autofokus und Belichtungsautomatik hier nutzlos. Wie löst du das Problem der Schärfe und der korrekten Belichtung bei diesen Geschwindigkeiten?
Ralf Mohr: Genau das sind sie. Ein Autofokus-System, selbst ein sehr gutes, kann mit diesen flatternden, unvorhersehbaren Bewegungen kaum Schritt halten. Es würde permanent pumpen oder den Fokus verlieren. Deshalb arbeite ich auch heute noch sehr oft mit manueller Schärfeeinstellung. Das erfordert absolute Konzentration. Man muss die Choreografie kennen und lernen, im Rhythmus der Tänzer zu denken, um die Schärfe an den Punkt zu legen, an dem die Bewegung ihren Höhepunkt erreichen wird. Auch die Belichtung steuere ich ausschließlich manuell. Das Bühnenlicht wechselt so schnell, dass eine Spotmessung auf einen Tänzer keine verlässlichen Werte liefern würde. Man muss die Lichtsituation der gesamten Szene im Kopf haben und die Einstellungen blitzschnell anpassen.
DOCMA: Wie entwickelt man dieses fast hellseherische Gespür für den perfekten Moment, gerade bei einem so unkonventionellen Stil wie dem von Goecke?
Ralf Mohr: Das ist ein Lernprozess, der lange vor der eigentlichen Aufführung beginnt. Ich besuche die Proben, beobachte die Abläufe und verinnerliche den Rhythmus der Stücke. Nach einer Weile ahnt man, wann eine Bewegung kulminiert. Der fotografisch stärkste Moment ist oft nicht der absolute Höhepunkt der Bewegung, sondern der Augenblick kurz davor, in dem die Spannung am größten ist. Die spannendsten Bilder entstehen, wenn die Tänzer so gut drauf sind, das sie die Bewegung die Choreographie, was Marco an Gefühl in dem Augenblick haben will, fühlen und in ihrer Bewegung aber auch in jeder Faser ihres Seins ausdrücken. Das ist dann körperlich spürbar in der Spannung in ihrem Körper, das sprüht ihnen aber auch aus den Augen und eben aus allen Fasern. Diese Momente ins Bild zu kriegen ist das Ziel. Bei Goeckes Tänzern, die unglaublich schnelle, flimmernde Bewegungen mit den Händen ausführen, zählt jede Zehntelsekunde.
DOCMA: Du fotografierst nicht nur die fertige Aufführung, sondern auch Proben und die Momente hinter der Bühne. Wie unterscheidet sich deine fotografische Herangehensweise in diesen drei Welten?
Ralf Mohr: Sie unterscheidet sich fundamental. Bei der Aufführung ist mein Ansatz dokumentarisch. Ich will das Gesamtkunstwerk aus Bewegung, Licht und Bühnenbild festhalten. Marco Goecke hat mir sogar erlaubt, mich während der Vorstellung direkt zwischen den Tänzern auf der Bühne zu bewegen, um eine extreme Nähe zu bekommen. Das ist wichtig. Robert Capa hat gesagt, wenn dein Bild schlecht ist, warst du nicht nah genug dran.
Im Ballettsaal während der Proben ist die Atmosphäre dagegen intimer. Das Licht ist neutraler, was technisch einfacher ist, aber die Herausforderung ist, die Poesie im Alltäglichen zu finden. Hier arbeite ich oft mit längeren Brennweiten, um einzelne Tänzer zu isolieren und die Konzentration oder die Kommunikation untereinander abzubilden. Aber natürlich gerne auch dicht dran. Die Situationen rund um eine Premiere erfordern wiederum einen fast journalistischen Ansatz. Es geht um rohe Emotionen – Anspannung, Freude, Erschöpfung. Da arbeite ich schnell, intuitiv und mit dem vorhandenen Licht.
DOCMA: Wie viel Ralf Mohr steckt nach dem Shooting in der finalen Bilddatei? Wie weit geht deine Nachbearbeitung in der Tanzfotografie?
Ralf Mohr: Die Bearbeitung ist essenziell in der Tanzfotografie, aber sie dient der Verstärkung, nicht der Verfälschung. Ich beginne mit einer harten Auswahl und reduziere die 2.000 bis 3.000 Aufnahmen eines Abends auf vielleicht 200 bis 300. In der Entwicklung arbeite ich viel mit lokalen Anpassungen, um zum Beispiel harte Schatten aufzuhellen, die durch das Bühnenlicht entstehen. Auch die Korrektur der unterschiedlichen Farbtemperaturen der Scheinwerfer ist komplex. Eine absolute Regel ist aber: Ich manipuliere niemals die Körper der Tänzer. Ihre Arbeit basiert auf physischer Realität und Perfektion, diese Authentizität ist unantastbar. Es geht darum, die Stimmung zu optimieren und die Details sichtbar zu machen, die bei hohen ISO-Werten im Rauschen unterzugehen drohen, aber niemals darum, eine neue Realität zu schaffen.
DOCMA: Vielen Dank für diese tiefen Einblicke in deine Arbeit.
Stage-Backstage – Das Staatsballett Hannover unter Marco Goecke fotografiert von Ralf Mohr
An den Grenzen des fotografisch Möglichen bewegt sich Ralf Mohr mit seinen beeindruckenden Tanzfotografien zu Marco Goeckes Choreografien. Minimales Licht, extreme Kontraste und Bewegungen von atemberaubender Geschwindigkeit fordern den Fotografen heraus, den einen entscheidenden Moment zu erfassen.
Der Bildband dokumentiert nicht nur die Bühnenaufführungen, sondern gewährt seltene Einblicke hinter die Kulissen: von schweißtreibenden Proben im Ballettsaal bis zu den emotionalen Augenblicken vor und nach einer Premiere. Entstanden ist ein faszinierendes Werk, das die Flüchtigkeit des Tanzes einfängt und gleichzeitig eine Meisterklasse in fotografischem Timing bietet.160 Seiten, Hardcover – eine Entdeckung für Fotografie-Enthusiasten und alle, die das Unsichtbare sehen wollen.