Das Auge, eine Kamera
In derselben Zeit, in der die Fotografie entstand, wurde auch der Aufbau des Auges detailliert erforscht. Da es um vergleichbare optische Prozesse geht, ist es kaum verwunderlich, dass Auge und Kamera einen ähnlichen Aufbau haben: ein abgedunkelter Innenraum, ein kleines Loch, das Licht einlässt, eine Linse zu dessen Bündelung, eine auf dem Kopf stehende Bildprojektion auf der dem Loch gegenüberliegenden Wand.
Die schon sehr viel länger bekannte Camera Obscura projizierte ebenfalls ein Bild – aber es ließ sich nicht dauerhaft fixieren, lediglich nachzeichnen. Um die Dauer aber ging es. Und so war die Entdeckung des Sehpurpurs im Auge – einer Substanz, die auf Licht reagiert, sich verändert, verblasst und vom Körper wieder neu aufgebaut werden muss – eine wichtige Entdeckung. War der Sehpurpur eine Art natürlicher Photochemikalie?
Eine damit in Zusammenhang stehende und folgenreiche Frage war damit auch: Was passiert mit dem Auge, wenn der Mensch stirbt? Wenn sich der Sehpurpur immer wieder neu bildet, dieser Prozess aber mit dem Eintritt des Todes aufhört: Brennt sich das Letzte, was ein Mensch gesehen hat, quasi auf seinem Augenhintergrund ein? Mehr noch: Gibt es physiochemische Prozesse, die das Einfrieren dieses Bildes im Falle eines plötzlichen und gewaltsamen Todes befördern? Oder, noch eindeutiger gefragt: Kann man einen Mörder identifizieren, indem man sich den Augenhintergrund eines Ermordeten unter dem Mikroskop genau anschaut?
Klare Beweise für die Existenz dieser sogenannten Optogramme hat es nie gegeben, aber immer wieder neue Versuche, Gerüchte und Verweise. In der experimentellen Kriminologie hörte das Interesse an dieser Theorie nach einem halben Jahrhundert in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts auf. In Literatur und Film jedoch spielten die Optogramme immer wieder eine wichtige Rolle. (Und, so viel darf ich schon verraten: Auch in meinem Roman, an dem ich seit 1991 arbeite, wird man sich bei einem Mord in den 1880er Jahren mit dieser Vermutung befassen.)
Auf dieses Thema bin ich gestoßen, als ich für die nächste DOCMA-Ausgabe ein interessantes Buch rezensiert habe: „Spuren, Elfen und andere Erscheinungen. Conan Doyle und die Photographie“ von Bernd Stiegler. Dazu – und zur Tradition der Fotofälschung – mehr in Heft 64. In diesem Buch entdeckte ich den Hinweis auf einen weiteren Titel des Verfassers: „Belichtete Augen. Optogramme oder das Versprechen der Retina“ aus dem Jahr 2011. Ein spannendes Buch für alle, die sich für die Geschichte dieser zwar widerlegten, aber dennoch wirkungsmächtigen Theorie interessieren.