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Ausstellungsbesuche mit Stützrädern

Als ich seinerzeit Fahrradfahren lernen sollte, hatten meine Eltern Stützräder an das Kinderrad geschraubt, damit ich nicht gleich umkippte. Das war nett gemeint, machte es mir im Endeffekt aber nicht wirklich leichter. Wer heutzutage Ausstellungen besucht, macht manchmal ganz ähnliche Erfahrungen.

Mit der Hochkultur, wie immer definiert, ist es ja so eine Sache. Als Freund dieser Hochkultur beschleicht einen unweigerlich das Gefühl, dass damit nur eine elitäre Minderheit (zu der, machen wir uns nichts vor, wir DOCMA-Redakteure ja irgendwie gehören) angesprochen würde. Folglich wünscht man sich, eine breitere Öffentlichkeit möchte in die Museen, Theater und Opernhäuser strömen, und fragt sich, wie sich das bewerkstelligen ließe. In letzter Zeit ist das nicht einfacher geworden, weil sich gerade unter den Intellektuellen die Angewohnheit breit macht, aus dem geringsten Anlass Anstoß zu nehmen, wenn man mal aus der eigenen Wohlfühlzone gekickt wird. Aber soll das dazu führen, dass man Ausstellungsbesucher wie kleine Kinder behandelt, denen man alles erklären und die man vor aller Unbill beschützen muss?

Ausstellungsbesuche mit Stützrädern
„Femme Fatale“ in der Hamburger Kunsthalle: John William Waterhouse Version der Zauberin Circe (1891)

Irgendwann ging es los mit den Triggerwarnungen: Bevor man sich den Bildern einer Ausstellung aussetzte, wurde man erst einmal darauf vorbereitet, dass einen etwas verstören könnte. Vor der Ausstellung „Femme fatale in der Hamburger Kunsthalle beispielsweise stand eine Warnung, dass die Darstellung von Frauen darin teilweise nicht der aufgeklärten Haltung heutiger Menschen entspräche. Aber was hätte man denn auch erwartet, wenn doch der Titel schon ein misogynes Klischee benennt – das die Ausstellung natürlich nicht affirmativ illustrierte, sondern im Kontext der #MeToo-Bewegung hinterfragte?

Ausstellungsbesuche mit Stützrädern
„Otto Dix und die Gegenwart“ in den Hamburger Deichtorhallen (Quelle: Deichtorhallen)

Als ich jüngst mit Christoph Künne – wir beide geben gerne die Waldorf und Statlers in Hamburgs Museen – die sehenswerte Otto-Dix-Ausstellung in den Deichtorhallen besuchte, fehlte es auch nicht an Warnungen. Nicht wegen Otto Dix, dessen Bilder heute niemanden mehr schockieren, so schockierend auch die Realität war, die er malte. Seine Bilder wurden allerdings durch tatsächlich oder vermeintlich korrespondierende Werke zeitgenössischer Kunst ergänzt, und insbesondere bei den bewegten Bildern wurden wir vor Sex und Gewalt gewarnt – und davor, dass all das unter 18 Jahren ungeeignet wäre.

Ausstellungsbesuche mit Stützrädern
Otto Dix: Selbstporträt 1942 (Quelle: Deichtorhallen)

Ich weiß ja nicht, wie Jugendliche heutzutage ticken, aber mein 16-jähriges Ich hätte diese Filme damals unbedingt sehen wollen. Und wäre enttäuscht worden. Da irrte ein Schauspieler mit exakt einem Gesichtsausdruck – aufgerissene Augen und vor Erstaunen ebenso aufgerissener Mund – rund eine Viertelstunde durch eine Kulissenstadt, geriet dabei in Kellerbars, deren Publikum das Alphabet von L, G, B über T bis Q durchbuchstabierte, ohne dass ihn dort etwas oder jemand fesseln konnte, bis ihm auf der Straße jemand eine Knarre zuwarf und er willenlos ein paar Passanten abknallte, um schließlich in die Kellerkaschemmen zurückzukehren. Der zweite Film war eine Art Porno-Version von „Der Untergang“, und noch nie hatte ich mir so sehr gewünscht, die Rote Armee würde endlich den Führerbunker stürmen. Kleine Kinder hätten es einfach nur öde gefunden. Otto Dix vermutlich auch.

Ausstellungsbesuche mit Stützrädern
Edvard Munch: Zauberwald

Und dann war da noch die Munch-Austellung im Museum Barberini – ich hatte ja schon vor ein paar Wochen hier erwähnt, dass ich dafür noch mal nach Potsdam reisen müsste, was ich vorletzte Woche in Begleitung meiner Lieblings-Munch-Freundin getan habe. Auch diese Ausstellung, die sich auf Edvard Munchs Bilder von Landschaften und des Menschen in der Landschaft konzentriert, ist unbedingt empfehlenswert und sollte am besten in Kombination mit der Munch-Ausstellung in der Berlinischen Galerie besucht werden, deren Thema die psychologische Darstellung des Menschen ist (es gibt ein Kombiticket).

Edvard Munch: Kinder im Wald – unheimlich, oder nicht?

Wir waren von den ausgestellten Bildern begeistert, von denen man viele nicht so oft sieht – im nächsten Jahr wird diese Ausstellung übrigens im Munch Museet in Oslo zu sehen sein, das ebenfalls auf der Liste meiner Munch-Freundin und mir steht –, aber die Texte dazu erschienen uns aufdringlich bevormundend. Zu einem Bild, das Menschen vor der Kulisse eines dunklen Waldes zeigte, wurde uns beispielsweise erklärt, dass dieser Wald unheimlich sei. Wir sahen ihn nicht so. Dass der Autor dieser Texte irgendwelche intimeren Kenntnisse des jeweiligen Waldes hatte, erschien unwahrscheinlich. Da wollte uns jemand etwas weismachen, das tatsächlich nicht mehr als ein subjektives Empfinden war.

Wohlgemerkt: Hintergrundinformationen zu Bildern, ihrem Thema oder den Umständen ihrer Entstehung sind nützlich, keine Frage. Aber man sollte den Ausstellungsbesuchern nicht die eigenen Empfindungen aufzudrängen versuchen, wenn man gar keine Argumente für diese Interpretation vorzubringen hat.

Womit ich beim Thema der nächsten Woche wäre: Als Ergänzung zu meinem Artikel „Was ist Kunst?“ in DOCMA 108 (ab dem 11. Dezember am Kiosk; die Abonnenten müssten sie jetzt bereits in Händen halten) werde ich in meinem nächsten Blog-Beitrag beispielhaft auf die Hintergrundinformationen eingehen, ohne die man Kunstwerke nicht verstehen kann – anhand eines Gemäldes von Jan van Eyck (15. Jahrhundert) und eines Aquarells von Edvard Munch (20. Jahrhundert). Ganz ohne Munch geht’s bei mir nicht …

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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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