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Auge, Leinwand, Kamera

Fotografien und Gemälde stellen die Welt auf eine ganz unterschiedliche Weise dar, und die Ursache dieses Unterschieds hängt mit der wiederum ganz anderen Art zusammen, in der unsere Augen die Umwelt wahrnehmen.

Letzte Woche hatte ich hier A History of Pictures von David Hockney und Martin Gayford empfohlen (eine deutsche Übersetzung ist unter dem Titel Welt der Bilder erschienen). Auch dieser Beitrag ist von dieser Lektüre inspiriert.

Im Kapitel Movies and Stills stellen die Autoren einem Gemälde des Manieristen Jacopo da Pontormo (1494–1557) ein Werk des Videokünstlers Bill Viola (geboren 1951) aus dem Jahre 1995 gegenüber.

Auge, Leinwand, Kamera
Jacopo da Pontormo: La visitazione (1528/29)
Bill Viola: The Greeting (1995)

Pontormos La visitazione von 1528/29 zeigt eine Episode aus dem Lukas-Evangelium: Die mit Jesus schwangere Maria besucht ihre Verwandte Elisabeth, die selbst mit Johannes (dem späteren Täufer) schwanger ist. Bill Viola hatte sich durch eine Beobachtung von drei Passantinnen, die sich auf der Straße unterhielten, an das Bild Pontormos erinnert gefühlt, und stellte die Szene mit drei Schauspielerinnen in einer am Renaissance-Gemälde orientierten Kulisse nach. Mit einer Zeitlupenkamera nahm er eine 45 Sekunden lange Einstellung auf, die er dann in einem auf rund 10 Minuten extrem verlangsamten Video zeigte (in einem französischsprachigen YouTube-Video kann man mehr darüber erfahren). Hockney und Gayford bildeten nun wiederum ein Standbild aus diesem Video ab.

Der Video-Ausschnitt friert die drei Frauen in ihrer jeweiligen Bewegung ein, wie es die Art von Standbildern aus Videosequenzen ist. Selbst wenn man dem Bild per Filter-Anwendung eine malerische Anmutung gäbe, sähe es nicht wie ein Gemälde aus. Beim intensiven Studium von Pontormos Ölbild geschah dagegen etwas Verblüffendes: Ich meinte, eine bewegte Sequenz zu sehen. Wohlgemerkt nicht im Sinne einer Bewegungsillusion, wie sie sich als optische Täuschung durch bestimmte Muster einstellt; vielmehr kam es mir so vor, als hätte der Maler die Essenz eines Bewegungsablaufs in seinem Bild eingefangen.

Tatsächlich macht das ja Gemälde und Zeichnungen aus: Der Künstler beobachtet sein Motiv für Stunden und bisweilen noch viel länger, und Eindrücke aus der gesamten Zeit fließen in das Ergebnis ein. Das erklärt aber noch nicht, wie damit auch eine Bewegung wiedergegeben werden kann, ohne mit Wischeffekten oder einer Montage mehrerer Bewegungsphasen (wie in Marcel Duchamps Nu descendant un escalier no. 2) zu arbeiten. Die Sache ist ein bisschen komplizierter, und bevor ich darauf zurückkommen kann, muss ich erst einmal auf die Unterschiede zwischen Fotografie und bildender Kunst einerseits und unserer visuellen Wahrnehmung andererseits eingehen.

Die Fotografie ist eine systematische Methode, dreidimensionale Szenen auf einer Fläche abzubilden. Man kann sich das so vorstellen, dass von allen Punkten der Szene gerade Linien durch einen Punkt gehen; dort, wo sie hinter diesem Perspektivpunkt auf eine Fläche fallen, werden die jeweiligen Punkte abgebildet. Genauso funktioniert auch die Malerei nach den Regeln der Zentralperspektive, wie sie unter anderem Albrecht Dürer 1525 in seinem Lehrbuch Underweysung der messung, mit dem zirckel und richtscheyt, in Linien, ebnen unnd gantzen corporen beschrieben hat.

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Albrecht Dürer 1525

In dieser Illustration betrachtet der Künstler sein Modell über einen Peilstab, dessen Spitze die Perspektive festlegt, und überträgt einzelne darüber angepeilte Punkte in das Raster seiner Skizze. Genauso bildet auch eine Kamera ab: Bei einer Lochkamera ist das Loch der Perspektivpunkt, bei einer Kamera mit Linsenobjektiv der Mittelpunkt der Eintrittspupille.

Die von Dürer beschriebene Technik kann nützlich sein, um Proportionen richtig wiederzugeben, aber wir selbst sehen natürlich nicht so. Wir betrachten die Welt nicht stur von einem festen Punkt aus, sondern sind stets in Bewegung, weshalb unsere visuelle Wahrnehmung verschiedene Perspektiven fusioniert. Wir sehen auch keine Bilder, oder jedenfalls keine, die mit Fotos oder Gemälden vergleichbar wären. Unsere Augen sehen nur in einem ganz kleinen Bereich wirklich scharf, und mit diesem etwa 1,5 Grad messenden hochauflösenden Sehfeld tasten wir unsere Umwelt ab. Dabei lassen wir uns einmal davon leiten, welche Details uns besonders wichtig erscheinen, daneben aber auch von Bewegungen: Wenn sich am Rand des Gesichtsfelds etwas verändert, nehmen wir das – wenn auch unscharf – wahr und richten den Blick darauf. Auf diese Weise gewinnen wir einen präzisen Eindruck davon, wie unsere Umgebung aussieht.

Die Abtastung benötigt eine gewisse Zeit, und so setzt sich unsere Vorstellung vom Raum um uns herum aus einzelnen Wahrnehmungen zu verschiedenen Zeitpunkten zusammen. Wir sehen keine Bilder, sondern erkennen Szenen und Objekte, und unterliegen dabei der Illusion, einen momentanen Überblick der gesamten Umgebung zu gewinnen. Tatsächlich handelt es sich um die Fusion einer Vielzahl von Detailwahrnehmungen, die Sekundenbruchteile oder länger auseinander liegen und auch nicht unbedingt dieselbe Perspektive teilen. Das funktioniert in der Praxis dennoch recht gut, da sich die meisten Dinge während der für einen Überblick nötigen Zeit kaum verändern, und wenn sie das doch einmal tun, so merken wir das und schauen nach.

Diese Wahrnehmung ist nicht perspektivisch. Stellen Sie sich vor, sie würden sich auf einer Party mit jemandem unterhalten, der ihnen gegenüber steht. Wenn Ihre Körpergrößen nicht allzu unterschiedlich sind, sehen Sie das Gesicht Ihres Gegenübers frontal, aber um einen Blick auf die Schuhe zu werfen, müssten Sie nach unten schauen. Die Beine erschienen dann stark perspektivisch verkürzt und die Füße in einem viel kleineren Maßstab als der Kopf. Mit einem Fisheye ließe sich ein so großer Bildwinkel zwar in ein Bild zwingen, aber nur um den Preis verzerrter Proportionen. Dagegen nehmen Sie Ihr Gegenüber als normal gebauten Menschen wahr, denn Ihr Gesamteindruck entsteht nicht aus der Auswertung eines extremen Weitwinkelbilds, sondern aus lauter einzelnen Details und Ihrem (auch unbewussten) Hintergrundwissen über den menschlichen Körperbau und die Effekte der Perspektive.

Bei dieser Funktionsweise der visuellen Wahrnehmung ist es zunächst verwunderlich, warum Fotos mit weit offener Blende so beliebt sind, bei denen der Hintergrund in einer strukturlosen Unschärfe verschwimmt. Wenn wir unsere Umgebung mit den Augen abtasten, stellen sie immer auf das jeweils in den Fokus genommene Detail scharf, so dass sich unser Gesamteindruck aus lauter scharfen Detailabbildungen zusammensetzt. Eine unscharfe Wahrnehmung erlebt man nur, wenn man seine Brille vergessen hat. Auch die bildende Kunst kennt kein Konzept von Schärfentiefe, und wenn es in Gemälden doch einmal so etwas wie einen Schärfenverlauf gibt, kann man sicher sein, dass ein Foto abgemalt worden ist.

Auf der anderen Seite werden wir ein wichtiges Vordergrundmotiv eingehender betrachten als einen weniger relevanten Hintergrund. Dort schauen wir nicht so oft und nicht so genau hin, und vermutlich liegen die Zeitpunkte, zu denen wir den Hintergrund abgetastet haben, auch weiter zurück als die Blicke, mit denen wir immer wieder zum Vordergrund zurückkehren. Eine Fotografie, die Vorder- und Hintergrund in ein und demselben kurzen Moment erfasst, kann solche Unterschiede in der Betrachtungsfrequenz nicht direkt wiedergeben, aber eine Aufnahme mit geringer Schärfentiefe übersetzt den Frequenzverlauf in der Zeit in einen Schärfeverlauf im Raum.

Wenn wir nun ein Gemälde oder ein Foto betrachten, tun wir das prinzipiell genauso, wie wir die abgebildete Realität betrachten würden – wir tasten es mit unseren Blicken ab. Wir erfassen nicht alle seine Details auf einmal, sondern nacheinander. Damit komme ich zu Pontormos La visitazione zurück. Um zu verstehen, wie der Künstler hier einen Eindruck von Bewegung vermittelt, müssen wir die oberen und unteren Teile des Gemäldes getrennt betrachten.

Die Haltung der Frauen erweckt hier den Anschein, sie würden stabil mit beiden Beinen auf dem Boden stehen; ihre Position wirkt statisch. Doch das täuscht.

Beim Blick nach unten wird nicht einmal klar, was hier Stand- und was Spielbein ist; die Füße berühren den Boden überwiegend nur mit den Zehen. Mit ihrer dynamischen Fußstellung befinden sich die Frauen offenbar gar nicht in einem stabilen Gleichgewicht. Die Teile passen also nicht zusammen, was uns nicht bewusst wird, da wir das Bild nicht im Ganzen erfassen. Wir lassen unsere Blicke darüber wandern, wechseln dabei zwischen statischen und dynamischen Bildteilen, und es ist eben dieser Wechsel, der den Eindruck von Bewegung erweckt.

Denselben Effekt haben auch andere Künstler genutzt, drei Jahrhunderte später beispielsweise Edward Burne-Jones in The Garden of the Hesperides (1869–73). Jacopo da Pontormo allerdings war der Meister solcher Bewegungseffekte, wie sie auch seine Kreuzabnahme (1528) zeigt, ein weiteres den Evangelien entnommenes Motiv.

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Jacopo da Pontormo: Kreuzabnahme (1528)

Der meist verwendete Titel dieses Bildes führt in die Irre. Pontormo konnte sich offenbar nicht zwischen den klassischen Bildtypen Kreuzabnahme (es fehlt das Kreuz), Pietà (Jesus liegt nicht in Marias Schoß) und Grablegung (es fehlt das Grab) entscheiden. Die Komposition lässt fast an einen Tanz denken, wobei nicht klar ist, auf was für einem Grund die Figuren überhaupt stehen. Selbst die den Leichnam tragenden Jünglinge im Vordergrund berühren den Boden nur mit den Zehen, während Maria Magdalena (erkennbar am körperbetonten Kleid) oben rechts über der Gruppe zu schweben scheint. Am rechten Bildrand sehen wir übrigens den Künstler selbst, wohl in der Rolle des Josef von Arimathäa.


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Michael J. Hußmann

Michael J. Hußmann gilt als führender Experte für die Technik von Kameras und Objektiven im deutschsprachigen Raum. Er hat Informatik und Linguistik studiert und für einige Jahre als Wissenschaftler im Bereich der Künstlichen Intelligenz gearbeitet.

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Kommentar

  1. Hervorragende, sehr erhellende Darstellung und Überlegungen. Die Sehschulung an Werken der bildenden Kunst ist unerschöpflich und für Fotografen ein weites Feld für Erkenntnisse.

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